Schatzsucher auf den Pfaden der Romanik

Wirkungsstätte deutscher Kaiser, Wiege der Reformation. Zentrum für bildende Kunst, Musik, Architektur und Literatur. Schauplatz der industriellen Revolution. Sachsen-Anhalt betrachtet sich zu Recht als Kernland deutscher Geschichte. Von der Altmark über Harz und Elbregion bis zum Wein-Land im Süden: Die Begegnung mit den Zeugnissen einer reichen Vergangenheit, eingebettet in eine Palette unterschiedlichster Landschaften, ist unumgänglich. Sachsen-Anhalt, das ist eine Schatzkammer des Kultur- und Bildungstourismus.

Dieses Kaleidoskop neu zu beleben stellte sich nach der politischen und wirtschaftlichen Wende die Touristik-Branche des Landes als Riesenaufgabe. Denn während das Land Hessen die „Märchenstraße“ durchzieht, die „Burgenstraße“ sich am Neckar entlang windet und Nordrhein-Westfalen mit einer „Mühlenstraße” auftrumpfen konnte, fehlte in Sachsen-Anhalt die Initialzündung zu einem ähnlichen erfolgreichen Tourismusprojekt. Mit einem am 8. Februar 1991 an das Wirtschaftsministerium gesandten Brief brachte der Spiritus Rector der heutigen „Straße der Romanik”, Dieter Haas, seine Ideen, das Land mit einem „Versuch fremdenverkehrstechnisch besser in die Werbung zu bringen“ zu Papier – die Geburtsstunde der erfolgreichsten touristischen Route durch das Land. Diese Idee muss im Wirtschaftsministerium eingeschlagen haben, denn kurz darauf bekam Dieter Haas die Aufforderung, seine Pläne zur „Romanikstraße“ detailreich zu formulieren. Hintergrund für die Eile: Aus Niedersachsen kamen damals auch Signale, ein ähnliches Projekt zu starten. Unabhängig sollten hier – dank der jetzt offenen Grenzen – die „Wege in die Romanik“ länderübergreifend aufgebaut werden. Grund genug für den damaligen Wirtschaftsminister Dr. Horst Rehberger, aufs „Gaspedal“ zu drücken. Bereits am 6. Mai 1991 traf sich die neu gegründete Arbeitsgruppe „Straße der Romanik“ zur ersten konstituierenden Sitzung im Magdeburger Rathaus. Hier wurden Nägel mit Köpfen gemacht und die Route als „Romanische Acht“ auf der Karte des Landes festgezurrt. Mittelpunkt bildet die Stadt Magdeburg. Schon zwei Jahre später – zum Todestag Otto des Großen – erfolgte am 7. Mai 1993 in Anwesenheit des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker die Einweihung des Tourismusprojekts. Ein Erfolg, der die wirkungsvolle Vertiefung der Identität Sachsen-Anhalts markierte – inzwischen eine der beliebtesten Ferienstraßen Deutschlands.

Die Nordroute führt von der Magdeburger Börde aus in die Altmark, die Südroute berührt den Harz, das Saale-Unstrut-Tal und die Region Anhalt-Wittenberg. In mittlerweile 73 Orten künden 88 rund eintausend Jahre alte Kirchen, Dome, Klöster, Burgen und Pfalzen von der Kunstfertigkeit romanischer Baumeister und erzählen von den Anfängen deutscher und europäischer Geschichte zur Zeit der ersten Jahrtausendwende von Arendsee bis Zeitz. Klöster, Dome, Burgen und Stadtanlagen aus der Zeit zwischen 930 bis 1250: Faszinierende Stationen einer Reise in die Vergangenheit. In Magdeburg treffen sich die beiden Routen der romanischen Tour nicht von ungefähr: Das Kloster Unser Lieben Frauen gilt als eine der hervorragendsten romanischen Anlagen auf deutschem Boden.

Nichts ist spannender als Geschichte. Wenn ihre Geschichte detailreich und faszinierend erzählt ist. Egal ob sie in der Urzeit, dem Mittelalter, der Renaissance, Aufklärung, Industrialisierung oder in der Jetztzeit handelt – die Menschen wollen gerührt und entführt werden. Der Erfolg der Straße der Romanik ist ein beredetes Zeugnis für das Funktionieren geschichtlicher Erfahrungs- und Wissenswege. Innerhalb solcher Entdeckungsreisen erklärt sich die Faszination an Historie.

Seit 2014 bietet das Projekt „Verborgenen Schätze an der Straße der Romanik” für Menschen aus Nah und Fern einen touristischen Wegweiser, der es ermöglicht, abseits der bekannten Wege, interessante Orte und ihre Geschichte kennenzulernen. Fünf Leader-Regionen zwischen Colbitz-Letzlinger Heide und Harz haben gemeinsam 47 Erlebnispunkte definiert, die den Landschaftsraum zwischen den offiziellen Stationen der Straße der Romanik mit Leben füllen. Die „Verborgenen Schätze an der Straße der Romanik” bilden quasi eine Verständigungsbrücke zwischen den Geschehnissen des Mittelalters und den folgenden Epochen in die Gegenwart und der geschichtliche Reichtum der Region wird noch plastischer. So lassen sich Querverbindungen herstellen zu Landschaftsattraktionen, wie dem Landschaftspark Gut Zichtau, Museen wie dem Bördemuseum Ummendorf oder Freizeiteinrichtungen wie dem Motorpark Oschersleben. Der Huy, eine Hügellandschaft des Vorharzes, weist mit Erlebnisrouten auf seine verborgenen Schätze hin und die gibt es reichlich hier. Allein die Fachwerkstatt Osterwieck mit ihren wertvollen Hausinschriften erzählt einen Teil Reformationsgeschichte und verweist wieder auf das Domkapitel Halberstadt, wenn man die Inschriften zu lesen weiß. Der Flechtinger Höhenzug hat neben der Wasserburg Flechtingen, die im Dornröschenschlaf liegt, das Schloss Hundisburg als bedeutendes Anwesen des ländlichen Barock zu bieten. In den zurückliegenden 25 Jahren ist Dornröschen hier nicht zum Schlafen gekommen, denn es herrschte rege Bautätigkeit, um die alte Ansicht wieder erstehen zu lassen. Die hier angesiedelte Sommermusikakademie lädt den musikalischen Nachwuchs aus aller Welt ein, das hochkarätige Festivalorchester zu bilden. Auch abseits der barocken Gartenanlage, einem Herzstück des Landesprojektes Gartenträume, hält die Kulturlandschaft Überraschungen bereit. Hünengräber, archäologische Funde, Radwege, Badeseen und ein Holunder-Kontor lohnen den Ausflug. Während die Straße der Romanik Aushängeschild für das Land ist, sind die „Verborgenen Schätze an der Straße der Romanik” die Verknüpfung von Naherholungszielen, die es auch für die einheimische Bevölkerung zu entdecken gilt. Nicht jeder kennt bereits das Jagdschloss Letzlingen, einzig erhaltenes Hohenzollernschloss in Sachsen-Anhalt, oder Burg Schlanstedt am Huy.

Im Frühjahr erscheinen drei Broschüren in einer neuen Auflage „Verborgene Schätze an der Straße der Romanik” für die Region Colbitz-Letzlinger Heide, den Flechtinger Höhenzug und die Region Rund um den Huy. Das Wissen um die regionale Geschichte ist ein ausgezeichneter Spiegel für das Erkennen eigener Bedeutung. Wer sich auf den Weg in die Geschichte macht, findet immer einen Ansatz zum Verständnis des eigenen Seins. Die Erklärungen über die eigene Herkunft liegen nicht an den Ufern ferner Länder, sondern sie liegen sprichwörtlich vor unseren Füßen. Sie werden nur zu selten wahrgenommen, weil man die sichtbaren Zeichen im Alltag selten mit dem Wissen um deren historische Deutung passiert.

Zurück