Wenn das Warten zum Notfall wird

PD Dr. Christian Hohenstein, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme am Universitätsklinikum Magdeburg.

Der Novembermontagmorgen ist grau und verregnet. Die Wetterstimmung passt zum Gefühlszustand von Martin P. Seine Nacht war schlaflos, von Schmerzen geplagt. In den zurückliegenden Tagen war er oft abwechselnd von Schüttelforst- und Schweißanfällen geplagt. Zunächst hatte Martin geglaubt, von einem hässlichen grippalen Infekt befallen zu sein. Doch dann kamen da diese intervallartig, unsäglichen Schmerzen im Magenbereich. Deshalb schleppte er sich am Montagmorgen in die Notaufnahme des Universitätsklinikums. Er war sich nun sicher, dass er von einer ernsthaften Erkrankung befallen war. Eine Tasche mit ein paar notwendigen Utensilien hatte Martin vorsorglich gepackt und mitgenommen. Nur für den Fall, dass man ihn dort behalten würde.

Die Mitarbeiterin an der Patientenannahme hat die Daten von Martin P. aufgenommen, nach seinen Beschwerden gefragt und ihn in den Wartebereich geschickt.

Im Wartebereich sitzen fast 20 Leute. Martin P. hat sich auf eine lange Prozedur eingestellt. Wenn nur nicht die fortwährenden Schmerzen wären und die Müdigkeit. Wann hat er eigentlich zuletzt etwas gegessen? Das ist bestimmt schon 30 Stunden her. Endlich wird sein Name aufgerufen und er begibt sich ins Behandlungszimmer. Auf dem Gang stehen Betten aufgereiht. Darin warten Patient offensichtlich auf den Fortgang ihrer Behandlung.

Die Schwester nimmt Blut ab, prüft Puls, Temperatur, Sauerstoffsättigung und fertigt ein EKG an. Der Arzt lässt sich die Beschwerden beschreiben. Für Martin P. wird eine Akte angelegt. Alle Werte und Erkenntnisse sind notiert.

Wieder zurück im Wartebereich versucht Martin P. in einer Zeitschrift zu lesen. Auf den Text kann er sich nicht konzentrieren. Die Augenlider wiegen schwerer als sein Informationsinteresse. Inwischen kommt mit dem Rettungswagen ein Notfall an. Die Trage wird hastig in den Schockraum gefahren.

Patienten mit lebensbedrohlichen Zuständen haben Vorrang. 15 Minuten braucht der Arzt zur Vorbereitung des Schockraumes. Blutdruckmessung wird vorbereitet, Narkose-, Schmerz-, Kreislaufmedikamente bereitgestellt. Ampullen müssen aufgebrochen werden, Spritzen ausgepackt. Manche Medikamente müssen verdünnt werden. Eventuell muss ein CT organisiert werden. Wenn alles glatt läuft, dauert die Versorgung eines Patienten im Schockraum eine halbe Stunde, meistens aber eher 45 bis 60 Minuten. In der Zwischenzeit müssen die anderen warten.

Über den Gang eilen ständig Pflegekräfte und Ärzte. Alles wirkt geschäftig. Die Luft in der Wartezone scheint mit Nervosität, Angst und Schmerzen angereichert zu sein.

Laborwerte dauern immer eine Stunde. Selbst, wenn die Werte vorliegen, kann sich ein Arzt oft nicht sofort um den betreffenden Patienten kümmern. Schließlich müssen inzwischen weitere aufgenommen werden.

Martin P. möchte gern wissen, was er hat, wie es weitergeht. Nicht nur der Magenbereich erzeugt einen brennenden Schmerz, auch die unbeantworteten Fragen.

Endlich kann sich ein Arzt mit den Werten von Martin P. beschäftigen. Er konsultiert weitere Kollegen. Der Weg zur Diagnose und für die weitere Diagnostik ist nie eine Einzelentscheidung. Wenn manche Werte hoch ist, braucht man vielleicht weitere Untersuchungen. Liegen eventuell schon frühere Werte vor, dann müssen sie herausgesucht werden. Manche Patienten kommen von einem anderen Krankenhaus. Dort muss angerufen werden. Auch da hat nicht immer sofort jemand Zeit, die entsprechenden Patientendaten herauszusuchen. Inzwischen konsultiert der Arzt in der Notaufnahme einen weiteren Facharzt im Bereich der Internistischen Klinik. Der verspricht zu kommen, kann aber auch nicht gleich seine Aufgaben liegen lassen.

 

Der Wartebereich der Notaufnahme ist nach wie vor voll. Inzwischen haben neue Patienten Platz genommen. Es mögen über vier Stunden vergangen sein. Martin P. wird erneut ins Behandlungszimmer gerufen. Der Arzt offenbart ihm die Diagnose. Eine akute Entzündung der Gallenblase. Aber es bedarf noch einer weiteren Diagnose. Ein Ultraschall soll angefertigt werden. Klar ist jetzt auch, dass Martin P. ein Bett erhalten soll und stationär aufgenommen wird. Zunächst darf er sich auf eine der Liegen im Gang legen. Seine Tasche wird ihm ans Fußende gestellt. Die horizontale Lage bringt etwas Linderung. P. kann jetzt die Augen schließen und findet etwas Ruhe.

Alles kostet Zeit. Auch die Konsultation mit ärztlichen Kollegen. Welche weiteren Untersuchungen sind nötig? Muss ein Radiologe beauftragt werden? Jeder Befund muss wieder besprochen werden, eventuell weitere diag-nostische Wege beauftragt werden.

Offenbar kommt gerade wieder ein Notfall dazwischen. Erneut wird eine Liege in den Schockraum gefahren. Martin P. bekommt alles nur in einer Art Dämmerzustand mit. Zeit ist jetzt keine so wichtige Kategorie mehr. Hilfe zu erhalten, zu wissen, was los ist – das schafft Erleichterung. Gewissheit mit der Aussicht auf Genesung zu haben, wirkt schon wie eine Medizin. Das Wissen um eine Entzündung der Gallenblase bzw. der Gallenblasenwege – das ist für Martin P. wie eine Tür, die sich geöffnet hat. Jetzt weiß er auch, dass seine Schmerzen richtige Gallenkoliken gewesen waren. Nur das mit dem Bett auf einer der internistischen Stationen scheint nicht zu klappen. Es streichen weitere Stunden dahin. Martin P. liegt da. Das Warten erscheint wie eine zusätzliche Qual. Fortwährend läuft medizinisches Personal an seiner Liege vorbei. Um ihn scheint sich niemand zu kümmern. Hat man ihn vergessen? Wieso dauert das alles so lange. Irgenwann war er noch zur Ultraschalluntersuchung gebracht worden. Zu welcher Stunde das war, kann Martin P. nicht mehr sagen. Jedes Zeitgefühl hat sich im Universum des Wartens verflüchtigt.

Täglich kommen ca. 120 Patienten in die Zentrale Notaufnahme des Universitätsklinikums. Niemand weiß welche Beeinträchtigungen oder konkreten Versorgungen wirklich notwendig werden. Für 5 bis 8 Notfälle muss ein Bett auf der entsprechenden Fachstation bereitgestellt werden. Aber auch die Stationen sind voll. Das ist übrigens ein weltweites Problem. Auf der jeweiligen Station muss umgeplant werden und das bei laufenden Aufgaben. Auch dort gibt es wenig Zeit für Ausnahmefälle.

Martin P. liegt immer noch auf der Liege im Flur der Notaufnahme. Er hat keine Ahnung davon, wer seinetwegen bereits alles telefoniert hat, wer was wie umdisponieren musste. Welche anderen Patienten parallel zu seinem Fall untersucht, betreut und besprochen wurden. Wie viele Ärzte haben sich inzwischen beraten. Dreimal hat er einem Mediziner direkt gegenübergessenen. Hatte sich befragen und untersuchen lassen. Die Auskunft über die Diagnose und die stationäre Aufnahme waren die einzigen Informationen, die Martin P. in der ganzen Zeit erhielt. Es ist gegen 19 Uhr als er von einem Pfleger in die internistische Station begleitet wird und ein Bett zugewiesen bekommt. Seine Untersuchungen indes noch nicht beendet. Später wird er noch einer Röntgendiagnostik unterzogen. Und er erfährt, dass es am nächsten Tag eine gastroenterologische Untersuchungen geben wird.

„Die Diagnose für jeden Notfall ist ein kompliziertes Puzzle“, sagt PD Dr. Christian Hohenstein, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme des Magdeburger Universitätsklinikums. Rückenschmerzen können ihre Ursache im Magen haben. Schmerzen in der Schulter vielleicht auf einen Herzinfarkt hindeuten. Patienten hätten eigentlich immer das Gefühl, dass die Notaufnahme schlecht läuft. Dieser Eindruck lässt sich in Stoßzeiten nicht vermeiden. „Wir könnten hier gern 20 Leute mehr haben, aber das bezahlt uns die Gesellschaft nicht“, erklärt Dr. Hohenstein. Aktuell ist die Notaufnahme mit einem Oberarzt als Chef, einer Oberärztin und zehn weiteren Ärzten ausgestattet. Zwei Ärzte von der Unfallchirurgie kommen noch dazu. Alle anderen Ärzte sind in den entsprechenden Fachkliniken und können bei Bedarf gerufen werden. Allerdings muss für deren Konsultation schon eine eingegrenzte Diagnose feststehen Außerdem arbeiten 25 Schwestern und Pfleger,  fünf in der Frühschicht, sechs am Nachmittag und vier nachts. Selbst, wenn der größte Teil der Patienten am selben Tag wieder nach Hause geschickt werden kann, haben sie häufig vier Stunden in der Notambulanz zugebracht. Manchmal müssen Werte nach drei Stunden wieder überprüft werden, bevor eine abschließende ärztliche Entscheidung gefällt wird. Notaufnahmen sind manchmal wegen der zahlenmäßigen Inanspruchnahme nicht mehr angemessen arbeitsfähig. Dr. Christian Hohenstein will künftig in der Magdeburger Notaufnahme umsteuern. Er möchte, dass eine Notfallpraxis vorgeschaltet wird, in der für jeden Patienten innerhalb von fünf bis zehn Minuten eine medizinische Ersteinschätzung erfolgt, ob derjenige tatsächlich ein klinischer Notfall ist oder ob die Weiterbehandlung in einer ambulanten Praxis möglich ist.

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