Langsamer Leser: Leider regnet es wieder

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Zug, allein im Abteil. Sie haben ihr normales Alltagsgesicht auf, also eher unfreundlich. Die Abteiltür öffnet sich, Gott, was will denn dieser Asiate neben mir. Da ergreift er meine Hand, ohne mich zu fragen. Er hält sie einfach. Ist er schwul? „Die meisten Männer denken in solchen Fällen, dass ich schwul bin. Aber darum geht es nicht. Ich frage denjenigen, warum er so traurig ist. Da bekomme ich erst einmal keine Antworten, aber ich merke, dass sich seine Hand entspannt.“ Der Beginn einer Behandlung. Der Heiler findet seine Klientel überall.

Ich muss gestehen, ich kriege es langsam mit der Angst zu tun. Rex Tillerson, das glaube ich Trump sogar, soll jetzt nach Old Donald glücklicher sein, nachdem er tweedmäßig abserviert wurde. Dieser Irre mit diesem irren Blick gegenüber den Reportern vor seinem Abflug sagt das. Eine Betonlast muss Tillerson von der Schulter fallen. Aber nun ist unter denen, die dem Imperator ab und an widersprechen, nur noch der Verteidigungsminister geblieben. Vorerst. Der, wie sagte Kim?, geistesgestörte Alte ist bald nur noch von Arschkriechern wie seinem neuen Verteidigungsmi-nister, Mr. Pompeo, umgeben. Und endlich kann er demnächst den Iran-Deal gegen die Wand werfen. Ja, da war doch noch ein muslimisches Land, das noch nicht in die Steinzeit gebombt war. Hält diese Karikatur niemand auf?

Jürgen Trittin hat einen wunderschönen Nachruf auf den ehemaligen Außenminister geschrieben. Da wusste er noch nicht, wie wir ihn jetzt gebraucht hätten. Für mich hat sich Seelchen Nahles mit der Nichtnominierung Gabriels als Parteivorsitzende erledigt. Die Dame kann ich nicht mehr ernst nehmen. Wie ich Schulz nicht mehr ernst nehmen konnte, als der behauptete, das mit ihm das bedingungslose Grundeinkommen nicht zu machen sei, weil die Würde des Menschen aus der Arbeit käme. 19. Jahrhundert, lieber Schulz. Sower wollte die Partei in die Zukunft führen. Aber das Seelchen ist es halt auch nicht.

Darüber aber wollte ich gar nicht schreiben, liebe Leser. Ich hatte doch mal etwas zu Galsan Tschinag versprochen. Ein Mann aus dem Stamm der Tuwa. Ca. 400.000 Tuwa leben in Russland. Etwa 4.000 Tuwa leben in der Mongolei, etliche noch in China. Die Tuwa sind ein nomadisches Turkvolk ohne Schriftsprache. Die Tradition wird mündlich weitergegeben. Galsan Tschinag, eigentlich Irgit Schynykbai-oglu Dshurukuwaa – aber wer soll sich diesen Namen merken, wenn er kein Tuwa ist? – ist Häuptling der in der Mongolei lebenden Tuwa, zugleich ihr oberster Schamane und, als Goethekenner, einer der besten deutschen Schriftsteller (ZEIT: ein Glücksfall für die deutsche Literatur), der sein Deutsch am Johannes R. Becher Literaturinstitut in Leipzig und letztlich als Adept des Eigenbrötlers Erwin Strittmatter erlernte.  1981 kam sein erstes Buch, „Eine tuwinische Geschichte“ mit dem Nachwort von Erwin Strittmatter heraus. Das soll erst mal an Informationen reichen. Wir werden in diesem Jahr mehr von Galsan Tschinag hören, da bin ich mir sicher. Wer sich mit der Figur dieses Meistererzählers mehr beschäftigen will, dem sei das Buch der Journalistin Marlis Prinzing „Der Schamane“ empfohlen, im Ullstein-Verlag erschienen.

„Schon am hellen Morgen benutzt ein Westmensch das Wort ‚leider’: ‚Leider regnet es heute’, ‚leider muss ich früh raus.’ Solche Sätze blasen kühlen Atem in den herausziehenden Tag. Wie anders wäre es, ihn mit hellen Gedanken, mit einem Gebet, mit dem Gefühl ‚schön, dass ich heute dieses oder jenes machen kann...’ Menschen leben, wie sie reden.“ (Schamane, S. 99). Galsan Tschinag versteht es, uns auf feine Art und Weise den Spiegel vorzuhalten. „Die Hälfte meines Geheimnisses ist, an den Menschen etwas Schönes zu finden. Vieles krankt an einer negativen Sicht. Manche möchten ihre Mitmenschen klein sehen und schleudern ihnen entgegen: ‚Du siehst heute müde aus.’ Aber so, wie ich das Leben behandle, werde ich vom Leben behandelt.“

Galsan Tschinag empfindet uns als eine arme Gesellschaft. Es gibt sehr viel und die Frage ist, ob man das braucht. Aber in den Gesichtern ist das Glück nicht zu finden. Die Gesellschaft hat keine Tiefe, obgleich sie doch die Schamanen hatte, die von der Tiefe erzählten, Mozart, Beethoven, Bach, Goethe im Faust mit seinem nach Tschinag „schamanischen Gesang“ in der Walpurgis-Szene. Aber wer nimmt sich die Zeit, diesen alten Schamanen noch zuzuhören?

Der Traum des Schamanen Galsan Tschinag ist, dass gerade in Fällen, in denen der Schamane nicht weiterkommt, er seinen Patienten an den Schulmediziner weiterreichen kann, wie umgekehrt der Schulmediziner Patienten, die eher einer seelischen Heilung zugeführt werden sollten, diesen Patienten auch dem Schamanen durchreicht. Aber da muss erst eine Erfahrens- und Vertrauensbasis geschaffen werden. Die künftige Menschheit muss diese Toleranz unbedingt aufbringen lernen, sonst drohen die alten Heilkünste weltweit, und damit ein unermesslicher Schatz, verloren zu gehen.

Als er auf einer Lesereise auffällig viele junge Türken unter seinen Zuhörern hatte, die, so stellte sich heraus, nach ihren Wurzeln suchten. Sie waren in Deutschland geboren und aufgewachsen, sprachen  Deutsch, als sei es ihre Muttersprache, fühlten sich aber hier nicht zu Hause. Sie fühlten sich in der Türkei nicht zu Hause, in Deutschland aber auch nicht. Von mir, sagt Galsan Tschinag, wollten sie Rat, weil mein Volk ja dort wohnt, wo ihre Vorfahren vor 1.200 Jahren herkamen, sozusagen eine Wächterfunktion übernommen hat. „Diese jungen Türken finden, ich bewege mich beneidenswert frei hier, und sie fragen, ob ich das Gefühl der Fremde nicht kenne. Ich erklärte ihnen, man kann sich Fremde auch einbilden. Wenn man denkt, die ganze Erde ist meine Heimat, die ganze Menschheit ist mein Familie, dann gibt es ‚die Fremde’ nicht. Man kann das Gefühl der Fremde aufheben. Auch das ist eine Lebenshilfe.“ (Galsan Tschinag S. 248) Der Heiler im Zug, das war er auch (s.o.).

Sie merken, ich bin es leid, über die verpassten Möglichkeiten in der Politik zu schreiben. Auch wenn ich nicht erkennen kann, dass die große Koalition „holperig“ begonnen habe, wie Kollegen schrieben, aber wer denkt, Olaf Scholz käme im Tutu zur Unterschrift, die Kanzlerin im Seidenkleidchen, der hat den Ernst der Weltlage noch nicht erfasst. Und ob man Seehofers „Heimatmuseum“ auf die Goldwaage legen muss – oder es als Ausdruck einer möglichen Siegfried-Lenz-Verehrung wertet, liegt nun ganz im Auge des Betrachters. Diese große Koalition wird ja bereits vor Beginn an die Wand geschrieben. Das, meine lieben Kollegen, ist nicht fair. Wollen wir doch mal das alles bei alten, bewährten Ritualien belassen und in 100 Tagen erstmals genauer darauf schauen. Vergessen Sie derweil nicht, dass nicht jede Partei, die rechtsstaatlich demokratisch gewählt ins Parlament gekommen ist, damit nicht den Ausweis auf demokratische Inhalte errungen hätte. Ne, meine Damen und Herren von der Einschlägigen, Sie haben mich schon verstanden? Ludwig Schumann                                              

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