Zeitungen: 30 Buchstaben und Tonnen von Papier

Irgendwo an der Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und München sieht man eine Fabrik, vor der riesige Quader gebündelten Altpapiers gestapelt sind. Vor allem Zeitungen wohl. Hunderte, vielleicht tausende Tonnen, bedruckt mit Buchstaben und Ziffern. Auch mit Bildern natürlich, für Leute, die sich nicht so gern bei Texten aufhalten. Gelesen, angeschaut, oder auch nicht, und weg damit. Es muss noch nicht mal sonderlich geistreich sein, was da geschrieben steht, immerhin aber ist es Geist, der Geist des Autors, der in den Zeilen lebt. Und nun weg. Tot.
Man brauchte nur ein bisschen an den Papierquadern zu zupfen, ein paar Fetzen herauszulösen und zu lesen anfangen, schon würde dieser Geist wieder lebendig. Als Information. Jeder weiß natürlich, was Information ist, aber – so paradox es scheint – niemand kann befriedigend erklären, was Information eigentlich ist. So zum Beispiel enthält die Zeitung, die Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, gerade in den Händen haben, dem Grunde nach keine Information, sondern ist nur mit Druckerschwärze versehenes Papier. Erst dann, wenn Sie zu lesen beginnen, wird daraus Information (gilt im besonderen Maße für MAGDEBURG KOMPAKT!). Zum Beispiel diese paar Sätze hier über das Wesen der Information.
Ohne Sie als Leser, ohne Informationsempfänger also, gibt es keine Information. Stellen Sie sich vor, das, was da gedruckt wurde, wäre nicht auf Deutsch, sondern auf Chinesisch geschrieben! Solange Sie sich nicht hinsetzen und Chinesisch büffeln, sind Sie dafür nicht empfänglich. Oder denken Sie das Umgekehrte: Ein Chinese greift sich beim Besteigen des Flugzeugs versehentlich eine deutsche Zeitung. Ein und derselbe Text, für den einen ist er informativ, für den anderen ohne Information.

Information. Information?
Die Schriftzeichen allein sind es nicht, die für die Information sorgen, auf ihre Reihenfolge kommt es an. Sie entscheidet, ob aus zweimal O und T entweder OTTO oder TOTO wird. MEHL lässt sich zu HELM schütteln, AMPEL zu LAMPE und PALME und FERNSEHEN zu EHRENSENF. Das Erbgut (die DNA) von Lebewesen kommt mit nur vier „Buchstaben“ aus: den Nukleinbasen Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin. Auch hier ist es deren Reihenfolge, die die Information des genetischen Textes bestimmt, die Erb-Information. Sie entscheidet, ob aus einer Keimzelle ein Kirschbaum, eine Schmeißfliege oder ein Fliegenpilz wird. Oder ein Mensch. Prinzip: jeweils drei solcher „Buchstaben“ tun sich zu einem genetischen „Wort“ zusammen, zu einem Basen-Triplett. Die Kombinatorik von 43 = 4 x 4 x 4 erlaubt 64 solcher Tripletts, nicht mehr und nicht weniger. Diese können sich zu unendlich vielen und unendlich verschiedenen Reihen zusammenfügen, eben zu dem für jedes Lebewesen arttypischen Erbgut. Selbst dieses unterscheidet sich noch von Individuum zu Individuum, falls es sich nicht gerade um eineiige Zwillinge handelt. Ein klein wenig nur, aber immerhin.
Und wie „eigentlich“ ist das nun mit den Buchstaben und Wörtern in einer Zeitung, in dieser hier zum Beispiel?

Zeitungstexte – unendlicher als unendlich
Im Deutschen verfügen wir über 26 Grundbuchstaben, dazu kommen drei Umlaute und das Eszett. Aus der Reihung dieser 30 Zeichen ergeben sich die Wörter. Ihre Anzahl wird im Wortschatz der Alltagssprache auf etwa 75.000 geschätzt. Nimmt man die Fachsprachen hinzu, kommen ein paar Millionen Wörter zusammen. Selbst mit einem eher einfachen Wortschatz lassen sich die einzelnen Wörter zu unendlich vielen Sätzen reihen, ob nun in Form persönlicher Notizen, als Brief, als Buch und eben in der Art von Zeitungstexten. Für die höheren Etagen des Sprachgebrauchs sollte der Umfang „noch unendlicher als unendlich“ sein – mathematisch gesehen Unsinn natürlich.
Dennoch faszinierend. Schon ein 55 Buchstaben langer Text ermöglicht unter Verwendung von 30 verschiedenen Buchstaben 3055 Kombinationsmöglichkeiten, egal ob nun sinnvoll oder nicht. Diese 3055 Kombinationsmöglichkeiten als Zehnerpotenzen geschrieben entsprechen 1081, und diese Zahl wiederum, so wird geschätzt, kommt der Gesamtzahl der Teilchen in unserem Universum gleich! Das heißt: Jeder Text ist einmalig, schon wenn er ein paar zig Wörter umfasst und nicht gerade abgeschrieben wurde. Das gilt selbstverständlich auch für all das Geschriebene, mit dem wir in den Zeitungen zu tun kriegen. Von wegen, überall stünde dasselbe! Obwohl die Zeitungen zu Tausenden und Abertausenden gedruckt werden, und selbst wenn es sich um Texte handelt, die nur mit einem Restgramm Großhirnrinde gesegnet sind, haben sie Einmaligkeitswert. Nicht nur für die Autoren, auch für jeden einzelnen Leser. Also nicht wegschmeißen, sondern alles aufheben!

Das gilt ganz besonders für MAGDEBURG KOMPAKT. Herzliche Gratulation zur 100. Ausgabe! Prof. Dr. Gerald Wolf

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