Der unplanmäßige Weg

Bernd-Uwe Schottstädt mit Ehefrau Elena. Obwohl es nur zehn Jahre werden sollten, führt er seit 25 Jahren das Magdeburger Unternehmen „Schottstädt & Partner Tiefbau GmbH. Foto: Viktoria Kühne

Man muss Ziele haben oder gar einen Plan fürs Leben. Bernd-Uwe Schottstädt hatte stets Pläne, aber dazwischen kamen immer Aufgaben, die jeden Plan durchkreuzten. Heute zeigt sich ihm, der beste Weg ist unter den eigenen Füßen, nicht auf einem Reißbrett der Träume.
Auf einer großen Schreibtischplatte türmen sich akribisch geheftete Unterlagen. Platz zum Arbeiten bietet der Tisch nicht mehr. Wahrscheinlich steht deshalb parallel dazu ein Schreibtisch gleicher Größe. Links und rechts von einer Computertastatur ruhen jedoch weitere solcher Aktenberge. Bauen ist eine komplizierte Materie. Ausschreibungen, Planungen, Berechnungen, Genehmigungsverfahren, Abrechnungsfortschritte – jede Akte ist wie ein Sammelsurium über einen Lebensabschnitt. Zeichnungen, Zahlen, Kalkulationen und Beschreibungen erzählen jedoch kaum etwas über das Leben, das dieses viele Papier erzeugt.
Bernd-Uwe Schottstädt steckt seinen Kopf täglich in diese Akten, auch an den Wochenenden. Morgens, um 6 Uhr, beginnt sein Arbeitstag. Nach 13 oder 14 Stunden macht er Feierabend. Dennoch ist nie alles erledigt. Alles bleibt in Bewegung. Vor 25 Jahren hatte er einen Lebensabschnittsplan. Doch mit Plänen ist das so eine Sache. Leben passiert, während wir es anders planen.

1992 war Schottstädt Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei der Energieversorgung Magdeburg AG. Die hatte zwei turbulente Jahre tiefgreifender Veränderung hinter sich, bevor 1993 die Städtischen Werke Magdeburg daraus hervorgingen. Als Betriebsrat hatte er während der Umstrukturierung versucht, für ausscheidende Mitarbeiter so viel wie möglich herauszuholen – Abfindungen, Übergangsgelder, Vorruhestandsregelungen. Bernd-Uwe Schottstädt hatte sich an dieser Aufgabe festgebissen, Achtung bei Kollegen geerntet und Respekt bei der Unternehmensführung. Von einst fast 4.000 Angestellten blieben am Ende gut 2.400 übrig. Solche Sachen fressen an der Seele. Aber weil Schottstädt des Streitens nicht müde wurde, obwohl er an einem Platz wirkte, wo sein Lebensplan ihn gar nicht hinhaben wollte, wäre man ihn sicher gern losgewesen.

Arendsee nennt man die „Perle der Altmark“. Wald, Felder und der gleichnamige See bilden eine Naturidylle. Mitten in diese beschauliche Landschaft wurde Bernd-Uwe Schottstädt hineingeboren. Am 2. Dezember zeigte das Außenthermometer auf 5 Grad Celsius. Es war leicht bewölkt bis heiter. „Leicht und unbeschwert“ – so bezeichnet er seine Erinnerungen an Kindheitstage. Die Eltern hätten ihn laufen gelassen, obwohl der Vater Schuldirektor gewesen war und sich der jungen sozialistischen DDR tief verpflichtet fühlte. Abends zog der Junge mit einem Maßband los und übte Weitsprung. Bei den Olympischen Spielen dabei zu sein – das war sein Traum. Nach den Märchenbüchern kamen ihm Erich Kästners „Emil und die Detektive“ und Strittmatters „Tinko“ unter die Augen. Bücher hätte er fortwährend verschlingen können. Das Lernen war Bernd-Uwe offensichtlich nicht schwer gefallen. Drei Abiturjahre absolvierte er in Seehausen. Er war jetzt Internatsschüler. Das blieb lange so. Denn die Hochschulreife erlangte er an der damaligen Arbeiter- und Bauern-Fakultät in Halle an der Saale, weit entfernt vom Elternhaus. Auf ein Auslandsstudium sollte er dort vorbereitet werden. Atomphysiker wollte Schottstädt werden und an der Moskauer Lomonossow- Universität studieren. Das war der ausgemachte Plan. Das Fach Literatur wäre seiner Seele näher gewesen. Träume und Wirklichkeit – die sind nicht vom selben Stoff.

Als er 1972 in Minsk das Studium für Kraftwerkstechnik aufnahm, war das nicht Atomphysik in Moskau, aber das einfache Leben in der weißrussischen Hauptstadt fühlte sich für Bernd-Uwe Schottstädt trotz Beschwerlichkeit ehrlich und bodenständig an. Das Leben war in der damaligen Sowjetunion beschwerlich, der Lebensstandard niedriger als in der DDR. Umso herzlicher und gastfreundlicher waren die Menschen. Für einen Freund, einen Gast würden sie das letzte Hemd geben. Nie wurde ihm gegenüber das Wort „Faschist“ verwendet. Trotz des unsäglichen Leides, was die russischen Menschen im 2. Weltkrieg ertragen mussten, konnten sie sehr gut zwischen „Faschist“ und „Deutschem“ unterscheiden. Allerdings war die Minsker Wirklichkeit nicht mit dem in der DDR dargestellten Idealbild von der Sowjetunion in Einklang zu bringen. Zwischen dem vermittelten Weltbild des Vaters und dem der Schule hatte sich bei Bernd-Uwe erstmals in der 9. Klasse ein Keil geschoben. Die Beatles sorgten mit ihrer Musik gerade weltweit für Furore. Lange Haare waren Ausdruck jugendlicher Rebellion. Bei den Lehrern galten sie als Symbol einer imperialistischen Ideologie. Als Schüler wurde man deswegen getriezt. Da bröckelte sein Glaube. Der Alltag in Minsk tat das Übrige. Dabei konnte man in den 70ern von Gorbatschow und Glasnost noch nicht einmal träumen.
Der Aufenthalt in der damaligen Sowjetunion ermöglichte ihm, durchs Land zu reisen. Mit den Menschen kam man schnell in Kontakt. Musik, Museen und Kunst begleiteten den angehenden Kraftwerkstechniker während der Studienzeit. Und Bücher – auch deutschsprachige – waren sogar um ein Vielfaches günstiger als in der DDR. Zu jedem Heimatbesuch schleppte er einen großen Koffer voller Lesestoff mit nach Hause. Hermann Hesse, Max Frisch und Thomas Mann hießen die Autoren, die ihn in dieser Zeit nicht mehr losließen. An Kunst und Literatur labte sich Bernd-Uwes Seele. Aber der Ingenieursberuf wurde Realität, eigenes künstlerisches Schaffen blieb eine Traumwelt.

Im September 1977 hatte man Bernd-Uwe Schottstädt einen Arbeitsplatz bei der Energieversorgung Magdeburg zugewiesen. Berlin, Dresden, Rostock – jeder Ort wäre ihm lieber gewesen. Zumal das Internatsleben nicht abriss. Für den alleinstehenden Absolventen gab es damals keine Wohnung, nur ein Wohnheimzimmer. Die Planungstätigkeiten für Investitionsobjekte der Energieversorgung begann der frischgebackene Ingenieur mit wenig Euphorie, wie er selbst sagt. Zu dieser Zeit starteten auch die Arbeiten an der Fernwärmeleitung nach Neu-Olvenstedt. Vielleicht war ihm Magdeburg damals fremd. Mit einer Zeitungsannonce versuchte er, sich beruflich nach Berlin abzusetzen. Doch drei verordnete Pflichtjahre waren wie eine Kette, die keine Abweichung vom sozialistischen Plan zuließ.
Dafür hat Schottstädt zugelassen, dass seine Seele gelegentlich schwingen konnte. Er fand Gleichgesinnte und Freunde in der Jazzszene. Im „Klub der Intelligenz“, eine dem DDR-Kulturbund unterstellte Einrichtung, existierte eine gewisse Zone für freie Diskussionen und Begegnungen. Für viele Künstler der DDR war dort eine Möglichkeit, ihre Arbeiten zu präsentieren. Christian Wiechert, Michael Kranz, Martin und Matthias Engel – Menschen, die in der Kulturszene verkehrten, kam Schottstädt sehr nah. In dieser künstlerischen Sphäre, im Aufkeimen gesellschaftlicher Debatten, fand Bernd-Uwe die Liebe zu Antje. Alles fühlte sich damals richtig an. 1983 erblickte seine Tochter Frauke das Licht der Welt. Nur mit dem Familienleben verlief es nicht planmäßig. 1995 gingen Antje und Bernd-Uwe getrennte Wege. Bei den Montagsgebeten im Dom, die bald öffentliche Demonstrationen wurden, war Schottstädt zugegen. Gegenüber den Bürgerbewegten, die sich für eine reformierte Republik einsetzten, fühlte er eine tiefe Verbundenheit. Und er saß am Runden Tisch seines Betriebes, an dem zeitweilig bestimmt wurde, wer hier etwas zu sagen hätte.

Mit der Deutschen Einheit rissen Millionen Lebenspläne, neue wurden geschmiedet, manche lösten sich auf, bevor sie fertig gezeichnet waren. Bernd-Uwe Schottstädts Veränderung hieß, Betriebsrat zu werden und für den Erhalt möglichst vieler Arbeitsplätze zu kämpfen. Bei der Energieversorgung wurde mancher Bereich ausgelagert. Im Betriebsrat kam man auf die Idee, Anlagenfahrer der Firma auszugründen und zu Tiefbauarbeitern zu machen. „Die können doch auch Bagger fahren. Willst du nicht die Firma machen?“ Die Frage schnitt sich in sein Leben. Selbstständigkeit verbunden mit Risiko und Ungewissheit – das waren die Begriffe, mit denen er über Wochen abends ins Bett ging und morgens wieder erwachte. Die Ungewissheit wurde ihm mit einem Firmengrundstück versüßt und einem Kreditbetrag, den er von einer Bank nie bekommen hätte. Ein westdeutscher Gewerkschaftssekretär riet ihm zu: „So eine Chance bekommst du nie wieder“. Ostdeutschland war Anfang der 90er eine Goldgräberregion. Alles musste umgewälzt werden, unter der Erde genauso wie darüber. Der Mut siegte über den Zweifel und Bernd-Uwe Schottstädt unterschrieb am 1. Juni 1992 die Verträge für das Unternehmen „Schottstädt & Partner Tiefbau GmbH“.
Einen Bauingenieur hatte er sich mit ins Boot geholt, weil er vom Bau nun wirklich nicht viel verstand. Aber sich vom Betriebsrat zum Unternehmer zu wandeln, war mindestens ein genauso schweres Vorhaben. Am Tag der Firmengründung stand Bernd-Uwe Schottstädt auf dem Wartberg, bestieg den Bismarckturm und blickte auf das vor ihm liegende Magdeburg. Zehn Jahre – das nahm er sich in diesem Moment vor – würde er diese Firma machen. Vielleicht ein wenig von der Goldgräberstimmung profitieren können. Dann sollte ein anderer Plan her, endlich einer, der ihn seinem literarischen Faible näher bringen würde. Doch das Leben blieb ein unplanmäßiger Weg.
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2005 lockte die Stadt Köln mit vielversprechenden Aufträgen. Glasfaserkabel und Breitbandinternet sollten die Rheinmetropole nach vorn bringen. Schottstädt folgte dem Ruf, obwohl er längst über zehn Jahre in seiner Firma saß. Eine Niederlassung wurde in Köln eröffnet und Leute eingestellt. Nur die Aufträge hielten nicht, was sie versprochen hatten. Die Sahnestückchen blieben bei den ortsansässigen Unternehmen. Die unlukrativen Geschäfte fraßen die Rücklagen und das Eigenkapital des Unternehmens auf. Ohne eine Reißleine wäre die ganze Firma am Rhein und an der Elbe den Bach runtergegangen. Von insgesamt 130 Mitarbeitern mussten 40 gehen. Von einer Bank gab es in dieser Zeit für Schottstädt keinen einzigen Heller. Die pure Angst bewegte den Magdeburger Unternehmer in dieser Situation. Von heute auf morgen hätte sich alles, was ursprünglich gar nicht sein Lebensplan war, in Luft aufgelöst. Die Angst vor dem Abgrund ist nicht der Abgrund. Doch noch war Schottstädt gar nicht gefallen, auch wenn die Sterne für ihn zeitweilig schlecht standen.
Weitermachen hieß die Losung. Das zahlte sich aus. Der Magdeburger Betrieb arbeitet nun seit 25 Jahren. Die 75 Mitarbeiter und 15 Auszubildenden um Schottstädt sind als verlässliche Partner in der Region bekannt. Die Kunden kommen aus der ganzen Umgebung, von Braunschweig bis Burg, von Stendal bis Aschersleben. Man kann sich keinen Plan über 25 Jahre machen, aber ein Vierteljahrhundert Schaffen erzeugt einen guten Ruf. Drei junge Bauleiter, neben zwei erfahrenen Kollegen, stemmen heute gemeinsam mit den Bauleuten für Bernd-Uwe Schottstädt die Aufträge. Die jungen sind von einem anderen Schlag, nicht wie er bereit, so manchen Samstag für die Firma zu opfen. Doch wichtig ist, dass alles läuft und dass man sich aufeinander verlassen kann.

Bernd-Uwe Schottstädt ist jetzt 64 und seit 18 Jahren mit Elena verheiratet. Beide verbindet eine tiefe Liebe und viel Verständnis füreinander. Nur mit der Unterstützung von Elena war der übergroße Zeiteinsatz für die Firma aufzubringen. Die gebürtige Russin brachte Julia in die Ehe ein, die er wie seine eigene Tochter begreift. Weil der Firmenalltag nur wenige Gelegenheiten für die Familie schenkt, die Wochenenden im Büro nicht abreißen, macht Schottstädt Zukunftspläne: Das Unternehmen soll eines Tages funktionstüchtig übergeben werden und fortexistieren. Er möchte dann noch reisen, sich den Musen Musik und Literatur widmen. Neben der ungebrochenen Lust fürs Lesen will er vielleicht endlich selbst schreiben, etwas mehr als Reiseberichte, von denen er bereits einige angefertigt hat. Er spricht von diesen Vorhaben entschlossen, doch seine Stimme klingt dabei sanft, so als würde da eine unerfüllte Seelenaufgabe vor ihm liegen. Wer weiß schon, was wird? Was im Leben Bernd-Uwe Schottstädts geschah, bescherte ihm einen unplanmäßigen Weg, einen, den er unter den eigenen Füßen angenommen und gemeistert hat. Thomas Wischnewski

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