Gedanken- und Spaziergänge im Park: Alles geklaut?

Am 6. März flog die grüne Ministerin Thea Theresa Bauer aus Baden-Württemberg nach Namibia, um zwei Gegenstände aus dem Stuttgarter Lindenmuseum zurückzubringen. Es handelt sich dabei um eine 1866 gedruckte Bibel und eine Peitsche, die Hendrik Witbooi, einem Stammeschef der Nama, gehörten und diesem von deutschen Kolonialtruppen abgenommen wurden. Der materielle Wert dieser Gegenstände dürfte gering sein. Für das Stuttgarter Museum waren sie vielleicht nur Staubfänger. Aber in Namibia wiegt der ideelle Wert der Stücke enorm. Denn Hendrik Witbooi war bis 1894 und ab 1904 an dem blutig niedergeschlagenen Aufstand der Hereros in dem damaligen Deutsch-Südwestafrika beteiligt. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass er mit den Deutschen zeitweilig gegen die Aufständischen verbündet war. Die Übergabe der Utensilien barg sogar Konfliktstoff, da die Witbooi-Großfamilie diese Objekte für sich beanspruchte und sie nicht dem Staat gönnte.

Frau Ministerin reiste natürlich nicht allein nach Namibia, sondern in Gefolge. Darunter Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft sowie Presseleute. Niemand fragte, wie groß der „ökologische Fußabdruck“ der Reise war und wie hoch ihre Kos-ten. Man hätte die historischen Sachen durchaus mit einem diplomatischen Kurier schicken und vom dortigen deutschen Botschafter feierlich übergeben lassen können. Aber nein, Frau Ministerin musste mit viel Pomp demonstrieren, dass die Deutschen mal eben die besten und uneigennützigen Menschen der Welt sind.

Kurze Zeit später las ich in einer Zeitung, dass Baden-Württemberg auch zehn menschliche Schädel australischer Ureinwohner an das Herkunftsland zurückgeben will. Offenbar lagen diese Schädel seit Langem unbetrachtet in einem Archiv. Interessant war dazu die Bemerkung der Staatssekretärin, die sagte, dass „wir uns in der Verantwortung sehen, angemessen mit menschlichen Überresten umzugehen und sie zurückzugeben, damit sie beerdigt werden können.“ Ob bei solcher Aussage allen Ägyptologen der Schreck durch die Glieder fährt? Wie viele ägyptische Mumien gibt es wohl in allen Museen dieser Welt? Von weiteren mumifizierten Toten aus anderen Kulturkreisen gar nicht zu reden. Sollen diese jetzt alle „angemessen beerdigt“ werden? Haben diese Überreste dann nicht auch Anspruch auf eine würdige Beisetzung? Vielleicht sollten wir eher bedenken, wie viele Kunstschätze durch Europäer für die Nachwelt gerettet wurden. Bekanntlich waren im 19. Jahrhundert in Ägypten Mumien und ihre hölzernen Sarkophage von Raubgräbern auf Märkten als Brennstoff angeboten worden. Mark Twain erzählte 1864 davon, dass Lokomotiven mit diesem „Brennstoff“ betrieben wurden. Mumien gab es viele, Holz und Kohle aber waren in Ägypten selten.

Europäische Wissenschaftler waren keinesfalls nur habgierige Räuber. Nehmen wir als Beispiel den berühmten Pergamonaltar. Es war 1878 der deutsche Straßenbauingenieur und Archäologe Carl Humann, der sich bei Pergamon im Osmanischen Reich aufhielt und einen Bauern sah, dessen Esel ein Marmorfries transportierte. Er fragte den Bauern, woher die Platte sei und was er damit mache. Der Bauer antwortete ihm, dass er sie zu Kalk brennen würde und sie sei von diesem Hügel da oben. Das war die Sternstunde zur Entdeckung des Pergamonaltars. Kurze Zeit später war der berühmte Fries nach Berlin transportiert, wo wir ihn heute noch bewundern können. Mit anderen Worten: er würde nicht mehr existieren, wenn Carl Humann nicht gehandelt hätte. Vielleicht erinnern wir uns ebenso an die antiken Bauten von Palmyra, die der IS vor wenigen Jahren in fanatischer Wut zerstörte. Und was wäre aus der berühmten Büste der Nofretete geworden, wenn sie nicht durch Ludwig Borchardt in der verschütteten Bildhauerwerkstatt des altägyptischen Bildhauers Thutmosis in El Amarna 1913 entdeckt worden wäre? Sie besteht nicht aus edlem Material, sondern nur aus Kalkstein. Außerdem war sie leicht beschädigt. Kaum vorstellbar, dass ein Raubgräber auf das einmalige Kunstwerk Rücksicht genommen hätte. Und angenommen, die Büste würde Ägypten zurückgegeben, wer würde sie schützen, wenn eine radikal islamistische Gruppierung die Macht ergreift? Erinnern wir uns, dass es noch 2011 bei der ägyptischen Revolution in Kairo einen Sturm auf das ägyptische Museum mit Plünderungen und Zerstörungen gab. Europa hat Großes zum Auffinden, Res-taurieren und Erhalten antiker Kunst geleistet. Die derzeitige Meinung, dass Europäer Räuber gewesen seien, ist in erster Linie ideologisch begründet und in ihrer Absolutheit regelrecht falsch. Deshalb finde ich es richtig, dass britische Museen sich diesbezüglich eindeutig äußerten. Für sie kommt eine Restitution nicht infrage.

Ein Kunsträuber war auch Napoleon. Im italienischen Feldzug und danach ließ er viele Kunstschätze aus Italien (und anderen Ländern) nach Frankreich schaffen. Der Louvre wurde nicht zu Unrecht damals in Museum Napoleon umgetauft. Geraubt wurden große Plastiken wie der venezianische Löwe und die Pferde vom Markusdom in Venedig ebenso die Quadriga vom Brandenburger Tor. Die Plastiken wurden nach Napoleons Niederlage zurückgegeben. Allein aus Italien sollen etwa 504 Gemälde geraubt worden sein. Nur ungefähr 250 kamen in ihre Heimat zurück. Viele kleinere Gemälde und Kunstgegenstände, die sich napoleonische Generäle und hohe Offiziere unter den Nagel gerissen hatten, sind nicht mitgezählt.

Bei gestohlener Kunst in Kriegen und Diktaturen  ist Restitution moralische Pflicht. Es ist selbstverständlich, dass zum Beispiel die in der Nazizeit gestohlenen jüdischen Kunstgegenstände an die Besitzer bzw. an ihre Erben zurückgegeben werden. Dasselbe gilt für im Krieg gestohlene Besitztümer von Museen damals besetzter Länder. Allerdings erscheint dies vielfach wie eine Einbahnstraße. So sei an den Quedlinburger Domschatz erinnert, von dem große Teile durch den kunstgeschichtlich gebildeten US-Leutnant Joe Thomas Meador am Ende des Krieges gestohlen und mit der Post zu seiner Familie in die USA geschickt wurden. Das war kein Heroismus wie in dem amerikanischem Film „Monuments Men“ (2014) mit George Clooney dargestellt, sondern purer Eigennutz. Erst in den 1990er Jahren wurde der Raub bekannt, als die Familie einzelne Stücke auf dem internationalen Kunstmarkt verkaufen wollte. Kamen diese Stücke inzwischen nach Quedlinburg zurück? Nein. Sie mussten zurückgekauft werden! Diebstahl zahlt sich für Sieger aus. Das widerspricht den Grundsätzen der Restitution.

Noch immer befindet sich der von Schliemann in Troja entdeckte Schatz des Priamos im Moskauer Puschkin-Museum. Seine Existenz wurde von der Sowjetunion bzw. von Russland bis 1993 geleugnet. Was ist mit den Kunstwerken der Moderne, die in der Nazizeit aus Museen entfernt und zum Teil im Ausland verhökert wurden? Sind sie an ihre alten Plätze zurückgekommen? Zum größten Teil wohl nicht. In diesem Zusammenhang sollte an die Sammlung Gurlitt erinnert werden. Der Focus veröffentlichte 2013, dass ein Cornelius Gurlitt eine riesige Sammlung moderner Kunst von seinem Vater Hildebrandt Gurlitt (1895-1956) geerbt hätte, vermutlich alles zweifelhafter Herkunft und in der Nazizeit zusammengerafft. Die Medien fielen über den damals 71-Jährigen her, der im Jahr darauf verstarb. Was hat es mit dieser Sammlung von über 1.500 Werken moderner Kunst auf sich, die angeblich alle Raubkunst sein sollen? Zumindest wurde bei knapp 500 Bildern ein „begründeter“ Verdacht geäußert. Bei lediglich fünf oder sieben Bildern hat sich der Verdacht wohl bestätigt. Hildebrandt Gurlitt war ein großer Förderer der modernen Kunst nach dem Ersten Weltkrieg. Von 1925 bis 1930 setzte er sich als Direktor des Museums in Zwickau für avantgardistische Kunst ein. Ausstellungen von Pechstein, Kollwitz und weiteren Expressionisten machten ihn in konservativen Kreisen unbeliebt, sodass er 1930 Leiter des Kunstvereins Hamburg wurde. Dort wurde er aufgrund seiner Einstellung 1933 entlassen und arbeitete anschließend als privater Kunsthändler. Von den Nazis wurde er aufgrund seiner hervorragenden Kenntnisse mit der „Verwertung entarteter Kunst“ beauftragt. Er sollte also den Verkauf organisieren. Viele Kunstwerke rettete er durch die Vermittlung von Werken in die Schweiz oder in die USA. Manches hat er offenbar selbst erworben. Um es klar zu sagen: Er hat diese Kunst gerettet. Was anderenfalls aus den Bildern geworden wäre, zeigt ein Ereignis vor 80 Jahren. Am 20. März 1939 wurden auf dem Hof der Feuerwehr Berlin bei einer als „Übung“ bezeichneten Aktion ca. 5.000 Gemälde, Plastiken, Grafiken und Zeichnungen der modernen Kunst unwiederbringlich verbrannt. Es gibt Kritiker, die Gurlitt die Zusammenarbeit mit dem Naziregime vorwerfen. In der Tat war er Mitglied einer Sonderkommission, die für die privat geplanten Museen von Göring und Hitler aus besetzten Ländern Gemälde aussuchen sollte. Dennoch hat er mit seiner Einstellung zur Moderne hunderte Kunstwerke vor der Vernichtung bewahrt. Heutige Kritiker haben damals nicht gelebt und wissen wenig über das Risiko, das ein Gurlitt eingegangen war. Nach dem Krieg durchlief er ein Entnazifizierungsverfahren. Im Juni 1948 wurde er rehabilitiert, weil er seine jüdische Herkunft, seine Nichtzugehörigkeit zu NS-Organisationen und seinen Einsatz für die Kunst der Moderne nachweisen konnte. Unter anderem war auch der damals als „entartet“ verfemte Maler Max Beckmann ein Entlastungszeuge. Es ist eben nicht alles geklaut. Paul F. Gaudi

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