Gedanken- und Spaziergänge im Park: Europa wählt

Demnächst ist also wieder eine Europawahl. Manche Politiker sprechen von einer Schicksalswahl, aber das will nichts besagen. Denn das behaupten sie ja fast vor jeder Wahl. Eine Schicksalswahl ist es keinesfalls für Europa, sondern bestenfalls für die Politiker selbst. Für sie entscheidet es sich ja, ob sie sich weiter an dem reich gedeckten Diätentisch des Europaparlaments bedienen können. Interessanterweise kommen dazu noch Sitzungsgelder. Der Laie wundert sich, denn in seiner Naivität glaubt er, dass sie ihre Diäten eben dafür bekommen, dass sie an den Sitzungen teilnehmen. Schließlich sind sie dafür doch gewählt, oder? Die Frage ist auch nicht, ob durch irgendwelche Wahlergebnisse Europa zerbrechen könne. Sicher nicht. Aber vielleicht könnte sich dieses oder jenes eventuell ändern. Das scheinen manche Politiker zu befürchten. Doch ist denn jede Änderung eine Verschlechterung? Oft nicht. Und wenn es eine Verschlechterung wäre, dann müsste man ja erst einmal fragen: für wen? Eine Verschlechterung für den einen bedeutet oft eine Verbesserung für den anderen. Folglich bedeutet eine Verschlechterung für die Politiker nicht zwangsläufig auch eine Verschlechterung für die Menschen, die in Europa leben.

Die große Frage ist auch, wie man Europa definiert. Geographisch ist das einfach: von der Biskaya bis zum Ural und vom Nordkap bis nach Sizilien. Politisch sieht das schon anders aus. Da ist die geographische Definition nicht mehr hinreichend. Lediglich im Sport scheint diese Definition noch zu gelten, allerdings hat sich Europa in diesem Ressort um Israel vergrößert und damit bis nach Vorderasien ausgebreitet: Denn in den meisten Disziplinen nimmt Israel bei den Europameisterschaften teil. Gemeinsame Meisterschaften mit den arabischen Nachbarländern ist den israelischen Sportlern wohl auch nicht zuzumuten. Auch der europäische Schlagerwettbewerb, also der Eurovision Song Contest findet in Tel Aviv, also in Israel statt.

Europa ist aber auch ein geistig-kultureller Begriff. Nicht umsonst spricht man von der christlich-abendländischen Kultur. Mancher Politiker redet auch von der jüdisch-christlichen Kultur, was eine unzulässige Reduktion ist. Schließlich ist das Christentum als eine sehr krasse Reformation aus dem Judentum entstanden. Diese Definition unterschlägt auch die entscheidenden kulturellen Anteile Griechenlands und Roms. Schon der erste Bundespräsident Heuss sprach davon, dass Europa auf drei Hügeln gebaut wäre: der Akropolis, dem Kapitol und Golgatha. Dieses Bild beschreibt das Zusammenwirken von hellenistischer Kultur und Philosophie, römischen Staatsverständnisses und christlicher Ethik. Dieser christlich-abendländischen Kulturbereich musste sich oft gegen viele Stürme verteidigen und behaupten, bildete aber anscheinend auch trotz aller und oft brutalen Auseinandersetzungen europäischer Staaten untereinander immer wieder ein nicht zu zerstörendes Band zwischen ihnen. Besonders nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges besann man sich wieder darauf.

Wenn Politiker jetzt vor der Wahl von Europa reden, dann meinen sie meistens die europäische Union, die ja nur ein Teil des geographischen Europas ist. Da gibt es sehr viele verschiedene Vorstellungen, wie die Europäische Union aussehen könnte. Das Ziel der einen ist ein zentralistischer Bundesstaat, in dem alle wichtigen Fragen von einer EU-Regierung entschieden werden. Andere meinen, dass nicht ein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund die beste Form der Europäischen Union wäre, der allen Mitgliedsländern einen großen Freiraum für eigene Entscheidungen belassen würde. Der große französische Staatspräsident de Gaulle sprach von einem Europa der Vaterländer, also ein Zusammenschluss weiterhin bestehender Nationen. Andere möchten ein Europa der Regionen, wo die Nationen verschwunden sind, aber dafür historische gewachsene regionale Landschaften an Bedeutung gewinnen, wie zum Beispiel Bayern oder die Provence oder Flandern. Ganz radikale wünschen sich ein Europa, in dem alles durchmischt ist und das kaum noch regionale oder nationale Bezüge aufweist. Das erscheint ausgesprochen illusionär. Wortführer dafür sind oft Menschen, die zu den sogenannten Eliten gezählt werden. Wenn sie nicht Politiker sind, so haben sie Berufe, die sie oft an verschiedenen Orten der Welt ausüben und nicht auf ein bestimmtes lokales Umfeld angewiesen sind. Auch von ihrem Einkommen her sind sie meist weit von der übrigen Bevölkerung abgehoben.  

Menschen, die eine andere EU als die jetzt bestehende haben wollen, werden oft als Europagegner diffamiert. Das ist falsch. Ein Europakritiker ist kein Europagegner, sondern es besteht lediglich der Wunsch, dass einiges verändert werden müsste. Ebenso falsch ist es, wenn man Großbritannien dafür kritisiert, dass es aus der EU austreten möchte. Zur Erinnerung: 1958 wurde die EWG gegründet und umfasste ganze sechs Staaten, Belgien, Frankreich, Italien, Niederlande, Luxemburg und die Bundesrepublik Deutschland. De Gaulle verhinderte, solange er es konnte, den Beitritt Großbritanniens! Erst 1973 – drei Jahre nach dem Tode de Gaulles – war der Weg frei und es trat der EWG bei. Und nun will Großbritannien wieder austreten, eine Volksabstimmung hatte es so beschlossen. Ich denke, sowohl die Europäische Union wie auch Großbritannien werden das verkraften. Bekanntlich sind auch die Schweiz und Norwegen nicht Mitglieder der EU und man kann nicht behaupten, dass es diesen Ländern schlecht geht. Auch die EU kann ohne sie gut existieren. In verschiedenen Medien macht man sich fast lustig über die leidenschaftlichen Debatten, die im britischen Parlament über den Brexit geführt werden. Damit wir uns richtig verstehen: dort wird nicht darüber diskutiert, ob Brexit ja oder nein. Das ist per Volksabstimmung beschlossen. Es wird nur darüber gestritten – und zwar über Parteigrenzen hinweg – wie er durchgeführt werden soll. Und ganz nebenbei: mir imponiert diese Diskussion auf den harten, grünen Bänken. So etwas wünschte ich mir mal in unserem übergroßen Bundestag, wo die Abgeordneten auf ihren verspielten und beweglichen Bürosesseln so abstimmen, wie es ihre Parteiführung verordnet hat. Selten, dass einmal das Abstimmungsverhalten freigegeben wird, wie letztlich bei der Abstimmung über „die Ehe für alle“. Dabei sollen doch die Abgeordneten laut dem Grundgesetz nur und ausschließlich ihrem Gewissen verantwortlich sein. Naja, denken wir uns unseren Teil.

So wünschen sich immer wieder Europäer und europäische Politiker, dass die EU auch reformiert werden müsste. Für mich ist es zum Beispiel ein Unding, dass das europäische Parlament wechselweise in zwei Städten, Straßburg und Brüssel, tagt. Plenartagungen in Straßburg, Fraktionen und Ausschüsse in Brüssel. Von Brüssel nach Straßburg pendeln Abgeordnete und Funktionsträger etwa alle vier Wochen. Es gibt sowohl in Brüssel als auch in Straßburg Büros. Alle Unterlagen werden in große Kisten gepackt und per LKW von Brüssel nach Straßburg gefahren. Dieses ewige Hin und Her kostet unnötig Geld. Laut einer Studie des Europäischen Rechnungshofs von 2014 kosten der Sitz in Straßburg und die Reiserei mehr als 110 Millionen Euro pro Jahr! Kritiker monieren dazu auch, dass dieser Wanderzirkus die Umwelt belaste und zeitaufwendig sei.

Das ist nur ein Punkt unter vielen. Es wird beklagt, dass Brüssel viel zu viel in die nationalen Belange hineinregiert. Es wird hin und wieder anders bestimmt, als selbst das Bundesverfassungsgericht es beurteilt. Das sind manchmal wichtige Fragen, manchmal auch geradezu lächerliche Kleinigkeiten, wie zum Beispiel das Verbot des Bleigießens zu Silvester. In meiner Kindheit war das noch üblich. Aber wer macht das heute noch? Und wo soll der Schaden liegen bei einer etwa halbstündigen Beschäftigung in 365 Tagen? Da fragt sich Otto Normalverbraucher doch, ob die da oben in Brüssel nichts Wichtigeres zu tun hätten? Das ist nur ein lächerliches Beispiel. Bei vielen Bürgern besteht der Eindruck, dass Brüssel viel zu viel hineinregiert und das nicht nur in der Wirtschaft. Auch in der Politik gilt, dass weniger manchmal mehr ist. Verschiedene Länder haben eben auch verschiedene außenpolitische Vorstellungen. Das hat unter anderem auch etwas mit ihrer geschichtlichen Entwicklung zu tun. Darauf muss Rücksicht genommen werden, wenn man diese Staaten und ihre Bevölkerung nicht vergrämen will. Das gilt besonders für Länder, die erst nach 1990 eine nationale Unabhängigkeit erreicht haben. Für einen gleichmacherischen Bundesstaat ist die Zeit noch lange nicht reif, wenn sie es überhaupt je wird. Eine nationale Identität schließt eine europäische Identität nicht aus, es sind nur zwei Seiten einer Medaille. Das gilt auch für die Wähler. Die Akzeptanz dieser Tatsache wird das Wahlverhalten mit bestimmen. Paul F. Gaudi

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