Einer verstehe des anderen Last

Man hält sich in der Regel für engagiert und fleißig. Faul sind oft nur die anderen. Tägliche Anstrengungen außerhalb der eigenen Arbeit können wir selten angemessen beurteilen. Was wir selbst nicht gefühlt haben, bleibt uns meistens verborgen. Ein Blick hinter die Kulissen hilft, die Tätigkeit anderer besser einzuschätzen.

Sie wollten schon vor Minuten zahlen, aber die Bedienung erscheint einfach nicht. Mancher ist da schnell genervt und schimpft über das Restaurant, das seinen Service nicht im Griff hat. Die Plätze rundherum sind komplett besetzt. An einem entfernteren Tisch wollen acht Gäste zugleich und jeder für sich zahlen. Das dauert. 21 andere haben à la Carte jeder ein anderes Gericht bestellt. In der Küche kochen nicht nur die Kartoffeln, sondern steigt auch das Stresspotenzial auf den Siedepunkt. Davon merkt draußen niemand etwas, aber Gründe zum Meckern, warum an welcher Stelle andere nicht so funktionieren, wie man es sich vorstellt, gibt es genug. Gelassenheit ist ein rares Gut. Wir werden heute nicht mehr beurteilt, sondern gleich verurteilt, wenn etwas nicht im Sinne des Kunden klappt.

Das Publikum staunt über die Virtuosität eines Instrumentalisten. Mancher möchte das auch können. Aber nach einigen Stunden vergeblichen Übens wird das Instrument zur Seite gelegt. Wie viele Stunden, gar Jahre eine Musikerin oder ein Musiker sich für die Beherrschung ihres Instruments anstrengen musste, wird oft nicht bedacht. Die eigene Rechtfertigung lautet dann: Man hätte eben kein musikalisches Talent.

Im Urteilen sind wir oft schnell. Möglicherweise hat das Phänomen sogar noch zugenommen, weil wir in einem Zeitverständnis existieren, in dem alles schnell und sofort verfügbar zu sein scheint. Und am besten soll alles wenig   kosten. Welcher Aufwand, wie viel Schweiß und welche Mühen hinter Produkten und Dienstleis-tungen stecken, wird kaum mehr gesehen. Die Herstellung vieler Güter passiert in Fernost. Logistischer Aufwand, komplexe Organisationen finden im Hintergrund statt. Das Verstehen für das Entstehen von Dingen oder Dienstleistungen rückt mehr und mehr in den Hintergrund.

Handarbeit findet in Kunstwerkstätten und Handwerksbetrieben statt. Das weiß und sieht man. Doch welche Anstrengungen in hiesigen Lagern, von Auslieferungsfahrern, Servicemitarbeitern und vielen anderen fleißigen Händen geleistet werden, sind ein Mühsal, das man auf dem Wohnzimmersofa nicht erkennen kann.

Es ließe sich gar mutmaßen, dass ein Verständnis für Fleiß und Anstrengungen schleichend verloren geht. Im vergangenen Jahrhundert arbeiteten viel mehr Menschen in produktiven Tätigkeiten. Ergo war auch das Verständnis für solche Arbeit selbstverständlicher im gesellschaftlichen Bewusstsein. Sicher gab es auch in dieser Zeit Kopfschütteln und Kritik, wenn etwas nicht wie am Schnürchen lief. Doch heute hört und liest man inflationär die Klagen in sogenannten sozialen Medien oder auf virtuellen Bewertungsportalen. Man macht sich halt mal Luft über die Dämlichkeit der anderen. So als ob man sich selbst jederzeit fehlerfrei und tadellos verhalten würde. Es ist so schön leicht geworden, andere mit ihren angeblichen Defiziten an den Pranger zu stellen, ohne sich an die eigene Nase fassen zu müssen.

Im Stau und auch sonst im Straßenverkehr tummeln sich so viele Fahridioten. Wer sieht aber die Folgen des eigenen Fahrverhaltens, von denen nur die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer betroffen sind. Wir stellen uns gern neben die Systeme und überschütten deren Mangelhaftigkeit mit unserem Unmut und wollen nicht sehen, dass wir Teil des Problems sind. Wer im Stau steht, ist Bestandteil desselben und Mitverursacher für alle, die dahinter ebenso warten müssen.

Gegen schnelle Verurteilungen hilft nur Wissen darüber, wie alles zusammenhängt und wer an welcher Stelle was einbringt oder leistet. Man kann mit offenen Augen durch die Welt gehen, nachfragen oder hinter die Kulissen schauen. Überall werden Menschen sichtbar, die sich genauso mühen, wie man vom eigenen Engagement überzeugt ist. Im Zeitalter, in denen Kurznachrichten die Welt erklären sollen, verliert sich der Blick für die Mühen von Menschen und es verstärken sich unangebrachte Sichtweisen. Einmal öfter hinschauen und nachdenken – dann verstehe einer besser des anderen Last. Thomas Wischnewski

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