Fahrrad kontra E-Roller

Die menschliche Mobilität hat ein weiteres Geschenk erhalten, den CO2 freien E-Roller oder auch E-Scooter genannt. Hochgelobt in den Medien wird damit das endgültige Aus für den Verbrennungsmotor eingeleitet, begleitend sozusagen. Sagt man jedenfalls. In der letzten Zeit häufen sich allerdings die Meldungen von teilweise dramatischen Unfällen, die mit diesem neuen Fortbewegungsmittel verbunden sind. Ob sie nun der Leichtsinnigkeit der Fahrer oder der Rücksichtslosigkeit anderer Verkehrsteilnehmer geschuldet sind, wird sich hier nicht feststellen lassen. Dafür ist die Polizei zuständig. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, ist da anderer Meinung und hat sein Urteil auf Grund der vielen, teils lebensbedrohlichen Unfälle bereits gefällt. Er sagt der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (auch zu lesen in DIE WELT vom 09.09.19), dass seine schlimmsten Befürchtungen bereits wahr geworden sind und fordert aus medizinischer Sicht, die Roller einfach zu verbieten. Das will ich hier nicht diskutieren, aber es scheint doch sinnvoll, ein wenig über die Physik des Fahrradfahrens zu sprechen und sie mit dem Rollerfahren zu vergleichen. Vielleicht liegen ja in den Unterschieden einige Ursachen der gehäuft auftretenden Unfälle. Jeder kann dann selbst entscheiden, ob er sich – auf der ideologischen Höhe der Zeit – mit dem Roller fortbewegen will oder vielleicht doch lieber auf den guten alten Drahtesel zurückgreift.

Über die Radfahr-Theorie
Bevor wir anfangen, das Radfahren etwas zu untersuchen, muss ich Ihnen eine merkwürdig erscheinende Tatsache mitteilen: Es gibt bis heute keine allgemein akzeptierte Theorie zum Radfahren. Zu vielen Details wird immer noch gestritten, bei Goggle können sie Erklärungen lesen, die von anderen wieder als falsch bewertet werden. Es ist fast so wie bei aerodynamischen Betrachtungen zur Flugfähigkeit von Hummeln. Hummeln können theoretisch eigentlich nicht fliegen und es ist nur gut, dass die Hummeln das nicht wissen. Wir jedenfalls können fast alle Fahrrad fahren und da könnte uns die Physik des Fahrens eigentlich egal sein. Da Sie sich gerade beim Lesen ein wenig entspannen möchten, will ich auch nicht allzu tief in die Theoriekiste hineingreifen und nur so viel dazu sagen, dass ein Vergleich zwischen Fahrrad- und Rollerfahren möglich wird.

Drehimpuls und Kreiseltheorie
Beginnen wir mit dem sogenannten „Nachlauf“. Wenn Sie sich Ihr Fahrrad ansehen oder vorstellen werden Sie einen Umstand erkennen, der im beigefügten Bild verdeutlicht ist. Stellen wir uns eine Gerade durch die Mitte der schrägen Lenkachse so weit verlängert vor, dass sie den Boden trifft und betrachten wir gleichzeitig den Berührungspunkt des Vorderrades mit dem Boden, so können wir einen Abstand zwischen diesen Punkten feststellen. Das ist der berühmte Nachlauf, der uns das Fahrradfahren deutlich erleichtert. Durch eine gekröpfte Vorderradgabel kann der Nachlauf verkleinert werden. Es zeigt sich nun, dass ein positiver Nachlauf (siehe Grafik oben) das Lenken unterstützt, ein negativer aber das Lenken des Rades nahezu unmöglich macht. Das liegt daran, dass erstens nach dem Prinzip „actio gleich reactio“ an der Berührungsstelle des Vorderrades mit dem Boden eine Reaktionskraft zur (entsprechend der Fahrradgeometrie aufgeteilten) Gewichtskraft von Rad und Fahrer entsteht und das zweitens, je nach Kippung des Rades bei Kurvenfahrt, aus dieser Reaktionskraft eine Kraftkomponente gebildet wird, die über den eingezeichneten Abstand h als Hebellänge ein Drehmoment erzeugt, das die Lenkbewegung unterstützt.

Der Begriff „Drehmoment“ mag manchem von Ihnen vielleicht unbekannt sein, aber seine Wirkung kennen Sie von der Kinderschaukel. Ein kleines Kind auf der Schaukelseite mit dem längeren Arm kann leicht einen Erwachsenen auf der Seite mit dem kürzeren Arm nach oben heben. Beim Fahrrad gilt: Wird h zu Null oder sogar negativ, wird Lenken schwieriger bis unmöglich. Wir schauen jetzt mal schnell zum E-Scooter hinüber: Die Neigung der Lenksäule ist oft geringer als beim Fahrrad, das Vorderrad auch viel kleiner, der Nachlauf also deutlich geringer. Die Konsequenz: Der Roller lässt sich nicht so stabil lenken, er neigt zum „Zappeln“.

Kommen wir zum zweiten Punkt. Hier streiten sich die Fahrradtheoretiker zwar noch immer, aber ich will den Punkt trotzdem erwähnen, weil ich ihn – zumindest ab einer bestimmten Fahrgeschwindigkeit – für relevant halte. Fahrdynamik ist nun wirklich etwas kompliziert und so werden wir uns hier erst einmal mit einem Phänomen beschäftigen, dass Sie vielleicht noch aus Ihren Kindertagen kennen. Wir, als Kinder, haben immer auf dem Kirchplatz gekreiselt. Ein Kreisel wurde mit einer Peitsche geschlagen und er rotierte dann anfangs um die Kreiselachse, wurde dann immer langsamer und begann zu taumeln, drehte sich aber noch bis er schließlich umfiel. Kreiseltheorie ist wirklich kompliziert und wir lassen sie hier weg. Aber wir wissen, dass Kreisel, wenn sie hinreichend mit Energie versorgt werden, ihre Raumachse nicht bzw. nur bei starkem Zwang und dann mit entsprechenden Gegenreaktionen ändern. Der Kreiselkompass im Flugzeug macht sich diesen physikalischen Effekt zunutze, seine Raumlage bleibt stabil, der Fahrradfahrer oder natürlich auch die Fahrradfahrerin profitieren davon aber auch. Wie das? Nun, das Vorderrad (aber auch das Hinterrad) haben einen sogenannten Drehimpuls, der sich aus dem sogenannten Massenträgheitsmoment des Rades (stellen Sie sich ein Schwungrad wie beim alten Lanzbulldog vor) und seiner  Rotationsgeschwindigkeit ergibt.

Der Drehimpuls ist ein Vektor (eine gerichtete physikalische Größe wie z. B. Kraft oder Geschwindigkeit), dessen Wirkungsrichtung in der Radachse liegt und der seine Raumlage, wie eben der Kreiselkompass, nicht ändern möchte. Er stabilisiert also die gesamte Fahrradlage. Bei üblichen Radgrößen und normaler Bereifung wirkt diese Stabilisierung nachweislich so ab etwa 20 km/h. Hier liegt auch der wesentliche Grund für die Möglichkeit, freihändig zu fahren.

Ein Fall aus 6,4 Metern Höhe
Sehen wir uns nun wieder den Roller an: Die Räder sind klein, das Massenträgheitsmoment um die Radachse ist also klein und damit wird der Drehimpuls zu einer vernachlässigbaren Größe für die Fahrstabilität. Mehr als 20 km/h sollen die Roller ohnehin nicht fahren dürfen, laut Gesetzeslage zumindest. Freihändig fahren sollte man also besser lassen. Zu diesen physikalischen Sachverhalten kommen bei der Abwägung Rad oder Roller aber auch noch einige ergonomische Gesichtspunkte. Sie sind kaum untersucht und ich möchte mich deshalb dazu einigermaßen vorsichtig äußern.

Da wäre zuerst die Lage des menschlichen Schwerpunktes relativ zur Lenkerhöhe. Der Körperschwerpunkt ist individuell unterschiedlich, aber wir können ihn vereinfacht bei auf dem Roller stehenden Menschen auf Hüfthöhe ansetzen. Achten Sie bei der nächsten Begegnung mit einem solchen Gefährt etwa auf die Lage des Bauchnabels des Fahrers. Liegt er über der Lenkstange, so können Sie ziemlich sicher davon ausgehen, dass der Fahrer bei einem Crash über die Lenkstange fliegt. Aufschlagen mit dem Kopf auf ein Hindernis bei 20 km/h entspricht etwa dem Aufprall auf den Erdboden aus einer Fallhöhe von ca. 6,4 m. (ich habe das mit der  Erdbeschleunigung von 9,81 m/sec2 ausgerechnet). Das Thema Helmpflicht sollte man deshalb eigentlich gar nicht diskutieren.

Auch die Stellung der Füße auf dem „Rollerbrett“ ist ungünstig für bestimmte Kippsituationen. Während Sie beim Radfahren beim Kippen nach links ganz selbstverständlich das linke Bein auf den Boden stellen und bei rechtem Kippen eben das rechte, werden Sie beim Roller nicht so ganz sicher sein. Das hängt davon ab, welches Bein vorn und welches dahinter steht. Stellen Sie sich die Kippsituation bitte real vor. Wissen Sie, welches Bein Sie nehmen? Nun, hier kann man sicher durch Übung eine Menge Unsicherheiten abbauen. Nun noch die Frage, was machen wir mit dem Gepäck, z. B. der Einkaufstasche oder eben der Aktentasche, die der klimabewusste junge Nutzer nach dem Ausstieg aus dem Zug irgendwohin hängen oder legen muss, wenn er dann mit dem Roller weiter zur Arbeit fährt. Da es keinen Gepäckträger wie beim Fahrrad gibt ist guter Rat teuer. Natürlich kann er sich die Tasche umhängen oder einen Rucksack benutzen. Das wirkt sich jedoch nicht förderlich auf die Aufschlagkraft bei einem Sturz aus. Ich empfehle auf keinen Fall, das Gepäck an den Lenker zu hängen. Die sehr sensible Lenkung wird dann noch empfindlicher. Jedes Steinchen oder jede Unebenheit auf der Fahrbahn können zu Irritationen führen.

Nein, es liegt mir fern, Ihnen den Spaß mit dem neuen Fortbewegungsmittel zu verderben. Ich wollte Sie nur auf einige Umstände aufmerksam machen, die Rollerfahren vom hinlänglich trainierten Radfahren unterscheiden. Vielleicht muss man beim Umsteigen auf ein neues Zweiradsystem auch das Alter der Fahrer berücksichtigen. Also, viel Spaß mit entsprechender Vorsicht beim Einsteigen in die neue Mobilität. Ob die Vorstellungen unseres Verkehrsministers zur massenhaften Nutzung der E-Scooter allerdings umsetzbar sind, werden wir wohl erst noch beobachten müssen.

Politiker verlachen die Physik
Als am 22. März das Thema im Bundestag beraten wurde und ein Dipl.-Ing. für Fahrzeugtechnik seine Bedenken formulierte, haben alle Parteien außer derjenigen, der eben dieser Redner angehörte, lauthals gelacht und den Redner verhöhnt. Nun gut, wenn man glaubt, sich über Physik lustig machen zu können, dann sollten wir uns so langsam auf die schöne neue Welt vorbereiten, in der Pippi Langstrumpf gelebt hat: „Zweimal Drei macht Vier, Widdewiddewitt und Drei macht Neune / Ich mach’ mir die Welt, Widdewidde, wie sie mir gefällt“.

Der Autor Prof. Dr.-Ing. habil. Viktor Otte
studierte und promovierte an der jetzigen Technischen Universität Ilmenau, arbeitete über zehn Jahre in der Forschung bei Carl Zeiss in Jena, war als Dozent an der Universität Magdeburg tätig und lehrte ab 1991 an der Universität Wuppertal, Fakultät Maschinenbau.

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