Kinder stehen häufig unter Überwachungsdruck

Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Elke Tischer. Foto: Michael Kranz

Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) ist die repräsentative Studie zur Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Demnach zeigen rund 10 Prozent psychische Störungen. Fragen an die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Elke Tischer zu Erscheinungen und Ursachen.
Frau Tischer, Kinder und Jugendliche mit welchen Problemen kommen zu Ihnen in die Praxis?
Elke Tischer: Ich erlebe den Durchschnitt, der auch in der KiGGS-Studie genannt wird. Da sind Angststörungen, Störungen des Sozialverhaltens, hyperkinetische Störungen und Depressionen.

Welche Ursachen sehen Sie für solche psychischen Auffälligkeiten?
Psychische Probleme sind grundsätzlich kein neues Phänomen. Doch das Leben hat sich verändert, es ist ein größeres soziales Gefälle entstanden, Existenzängste haben zugenommen. All das wirkt sich im elterlichen Verhalten aus. Oder: Mit dem heeren Ansinnen, das Beste für die eigenen Kinder zu wollen, können auch dauerhafte Belastungssituationen entstehen.

Sie meinen, den Leistungsdruck in der Schule?
Nein, ich meine den gesamten Druck, der auf Heranwachsenden lastet. Eltern organisieren gern eine Rundumversorgung für ihre Kids. Kinder werden zur Schule gebracht und wieder abgeholt – und da meine ich nicht nur Schulanfänger. Anschließend gibt es Musikunterricht und Sporttraining. Manche Kinder stehen quasi im gesamten Tagesverlauf unter Überwachung von Erwachsenen. Und Kinder möchten den Autoritäten für ihr Verhalten bzw. ihre Ergebnisse gerrecht werden und Lob erhalten. Der Lehrer am Vormittag, die Musikpädagogin am Nachmittag, der Trainer und die Eltern sehen jeweils nur den eigenen Anteil ihrer Anleitungzeit. Aber man muss die Gesamtsituation von Unterweisung, Prüfung, Zurechtweisungen etc. betrachten.

Wird von Kindern heute mehr verlangt?
So einfach darf man die Frage nicht stellen. Es gibt kein generelles Krankmachen. Eltern wissen heute viel mehr über Persönlichkeitsentwicklung als noch vor 30 Jahren. Sie stellen hohe Ansprüche an sich selbst, bemerken aber selten, dass sie den Druck unbewusst auf ihre Sprösslinge übertragen.

Können Sie das Mal konkretisieren?
Es gibt Kinder, die haben Freunde nur noch in der Schule. Es kommt sie niemand spontan in der Woche besuchen. Sie schreiben sich zwar auf Whatsapp oder verfolgen sich auf Instagram und glauben, damit verbunden zu sein. Aber das sind keine tiefen, interaktiven sozialen Beziehungen. Wir müssen alle ständig sinnliche und emotionale Erfahrungen machen. Wenn es im Kindesalter dabei Defizite gibt, kann das beispielsweise negative Folgen im empathischen Verhalten zeigen. Ich erlebe in meinem Praxisalltag Kinder und Jugendliche, die man unter dem Phänomen Verinselung sehen kann.

Welche Wege weisen Sie Eltern aus der jeweiligen Situation?
Für alle – gesunde und auffällige Eltern-Kind-Beziehungen – gilt: Es ist ungemein wichtig, dass Eltern in ihrer Erziehung und in ihrem familiären Gefüge Wert auf Vertrauen und eine offene und respektvolle Kommunikation legen. Die Verantwortung für die Atmosphäre in der Familie liegt in ers-ter Linie bei den Eltern. Man sollte manches einfach laufen lassen, das heißt, Kinder nicht verhörend ausfragen, besser zuhören oder sie einfach quasseln lassen. Spielphasen mit Gleichaltrigen sind wichtig. Selbst Zeiten, in denen Langeweile entsteht, sind bedeutsam. In ihnen zünden Impulse für Kreativität und Ideenreichtum.

Können sich Lehrer und Eltern gegenseitig unterstützen?
Das können sie. Es geht um eine gute Eltern-Lehrer-Beziehung. Damit meine ich nicht, dass Pädagogen nur anrufen, wenn das Kind seine Hausaufgaben nicht gemacht hat oder ähnliches, sondern tatsächlich über die Entwicklung des Kindes im allgemeinen im Austausch zu sein, so wie das schon in Freien Schulen wie an Waldorfschulen oder Montessori gehandhabt wird. Das ist sicher schwierig, beide Seiten müssen bereit und in der Lage sein – Lehrer stehen selbst häufig unter hohen Belastungen –, aber ich denke, dass es sich wirklich für alle Seiten lohnt.

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