So schlimm ist dann alles nicht mehr

In den Berichten zur Dreißigjahrfeier des Mauerfalls ist bisher leider zu wenig beleuchtet worden, was der wahre Grund für eine möglicherweise noch bestehende Kluft zwischen West und Ost sein könnte: Der Westen hat einfach noch nicht zur Gänze zum Osten aufgeschlossen. Viele Westdeutsche hatten und haben es schwer zu akzeptieren, was der Osten ihnen voraus hat. Der Osten hat die unberührteren, wenn nicht gar schöneren Landschaften (mecklenburgische Ostseeküste, Saaletal, Sächsische Schweiz, Thüringer Wald), seine alten Städte sind mangels Geld zumeist von den verheerenden Bausünden der sechziger und siebziger Jahre (Stadtautobahnen, Eigenheimgettos, Waschbetonästhetik) verschont geblieben, und tiefenpsychologische Identitätskonflikte (bin ich Deutscher?) kannte der Osten auch nicht. Nach der Wende gingen dann fast alle Gelder für Infrastruktur, Hochschulbau oder Denkmalschutz in den Osten. Im Osten hat man auch heute noch Platz und Luft, während die bemitleidenswerten Westdeutschen in dichter Besiedlung kaum noch Stellplätze für ihre Zweitautos finden. Dauerstaus wie auf den Autobahnen um Köln oder Stuttgart kennt man im Osten nicht. Die Mieten sind hier niedrig, fabelhafte Villen und Wohnungen überall noch zu haben. Immerhin sind bisher über zwei Millionen Westdeutsche den Verlockungen des Ostens erlegen und in die neuen Bundesländer gezogen, während die gerade mal eine Million Ostdeutsche, die seit 1990 in den Westen oder ins Ausland gingen, langsam aber sicher in ihre alte Heimat zurückkommen. Und dann musste Westdeutschland noch den Umzug der Bundesregierung in die alte neue Hauptstadt Berlin erdulden, diesem Ungetüm von Stadt.

Diese und andere Entwicklungen durchzumachen, das verlangte schon eine große Anpassungsleistung der Altbundesdeutschen, die zu selten gewürdigt wird. Genauso wenig wie die Lebensleis-tung vieler Almbauern, denen die Hochleistungslatifundien im Osten die Landbestellung ruiniert haben, oder wie die der Kumpel im Ruhrgebiet, deren Kohlestrom von den Tausenden von Windrädern auf Brandenburgs Weiten aus dem Markt gedrängt wurde. Die gute Nachricht ist: In weiteren 30 Jahren wird der Westen aufgeholt haben.

Scherz beiseite: Es würde uns guttun, öfter mal einen kleinen Perspektivwechsel vorzunehmen. So schlimm ist dann alles nicht mehr. Dr. Stefan von Senger und Etterlin, Berlin

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