Sternchen – Ein Weihnachtsmärchen von Ludwig Schumann

Mich beachtet keiner mehr. Verschrumpelt liegt das kleine Sternchen vor Pawel, dem ungestümen jungen Kater, der ihn mit einem Pfotenschlag unter dem Schrank hervorgeholt hatte. Pawel hat kein Ohr für die Klage des Sterns. Er versucht, einen Spinnweb, der den Stern umgarnt hielt, von der Pfote zu schütteln.

Ja, sagt der Stern, und nie war da einer, der mal unter dem Schrank gefegt hätte. Man ist bald abgetan, wenn man im Alltag keine Rolle mehr spielt. Der Spinnweb ist hartnäckig.

Da liegt noch mehr unter dem Schrank, sagt das kleine Sternchen, falls du damit spielen willst.

Pawel gibt dem Sternchen einen Stups, dass er in die Ecke rollt. Das Sternchen leuchtet für einen Moment auf. Durch die Bewegung stießen die altersschwachen Batterien an die Kontakte und gaben Licht, freilich nur ein Aufflackern.

Das Katerchen war vor Schreck hoch aufgesprungen. Dabei verlor es den Spinnweb an der Pfote. Gott sei Dank, sagte Pawel. Du hast mich erlöst.

Nein, sagte das Sternchen, das kann ich nicht. Das hat er schon gemacht. Ich bin vor Schreck aufgesprungen und da löste sich das Übel, sagt Pawel. Du hast geflackert. Du warst es, der mich erschreckt hat.

Ja, sagte das Sternchen, das ist wohl so, dass ich nur noch zum Erschrecken tauge. Aber früher! Da strahlte ich. Da haben sich sogar Menschen nach mir gerichtet, so wichtig war ich!

Ach, sagte Pawel, das glaubt man nicht, wenn man dich sieht.

Sternchen nickte. Du hast recht, sagte es. Ich brauche eigentlich nicht viel, lediglich meine Batterien müssen erneuert werden. Aber die mich unter den Schrank gekehrt haben, wissen das nicht mehr. Für einen Augenblick herrscht Stille. Fast. Denn nun hört man eine flotte Version des Tannenbaum-Liedes vom Weihnachtsmarkt. Jedenfalls lässt es sich erahnen, bevor die House-Music-Nummer vom Riesenrad das Weihnachtslied übertönt.

Ich bin Pawel. Die Leute hier in der Wohnung haben mich aufgezogen, als meine Mutter eines Nachts nicht zurückkehrte. Sie geben mir zu fressen, streicheln mich, sind im Allgemeinen freundlich. Nur an Tagen, an denen ich viel Spaß hatte, wenn ich die Blumen aus der Vase gezogen und untersucht habe, so dass sie sich in ihre Einzelteile auflösten, wenn das Wasser aus der Vase auf dem Holzfußboden vor sich hinwaberte, dann bekam ich Ärger. Ich glaube, das ist typisch für den Menschen: Wenn unsereins Spaß hat, wird er neidisch.

Da kannst du Recht haben, meint das Sternchen. Als ich damals über dem Kind leuchtete, gab es auch viele, die das überflüssig fanden. Was will er bei dem Kind, sagten welche, er soll in meine Stube leuchten. Meine Kinder lernen Schreiben, aber ihnen leuchtet kein Stern. Das ist doch nicht gerecht. Weißt du, Pawel, das habe ich seither oft gehört. Die Menschen erzählen immerzu von der Ungerechtigkeit, aber selten von der Hoffnung.

Hoffnung? Pawel schüttelt seinen Kopf. Zwei Haarlinge fliegen ihm aus dem Fell. Was ist das?

Sternchen denkt nach. Dabei ergreift es ein unruhiges Flackern. Obwohl es niemand anstößt, finden sich die Kontakte. Verflixt, sagt es, das macht mich ganz unruhig, dieses Geflacker. Hoffnung, ja. Das Kind, das ich einst beschienen habe: Da haben die, die es betrachteten, erzählt, dass es ihre Hoffnung sei. Das ist so ein Gefühl der Erwartung, weißt du? Pawel weiß es nicht.

Naja, wenn es draußen dunkel wird, weißt du doch, dass deine Leute kommen. Du wartest auf sie. Warum?

Weil sie mir zu fressen geben. Weil sie mich dann streicheln. Weil ich dann nicht mehr allein sein muss.

Siehst du, du bist voller Erwartungen, die in Erfüllung gehen werden. Das weißt du, dass sie in Erfüllung gehen.

Und das ist Hoffnung?

Ja. Du freust dich auf deine heile Welt am Abend. Ich glaube, die Leute, die damals den Stern gesehen haben und zur Geburt des Kindes an den Ort seiner Geburt kamen, die Eltern begrüßt und manche sogar Geschenke mitgebracht haben, die freuten sich auch. Sie glaubten, wenn das Kind erst erwachsen sein wird, gehen ihre Wünsche in Erfüllung.

Pawel versteht das Ganze nicht: Ich habe das Gefühl, du willst mir eine Geschichte erzählen, aber du redest immer um sie herum. So werde ich sie auch nicht verstehen.

Ach Pawel, du armer Wurm, ich weiß doch auch nicht, ob ich sie jemals verstehen werde.

So ungefähr, als wir das Jahr Null schrieben, vielleicht drei, vier Jahre später oder früher, ich war ein kräftiger Stern, eigentlich ein Komet mit einem hellen Schweif, erhielt ich den Auftrag, Menschen den Weg zu einem Kind zu weisen, dass für viele Menschen eine große Bedeutung bekommen soll. Er zeigt den Weg zu Gottes Sohn, flüsterten die Sterne unter sich, wenn ich vorbeikam. Ich habe es deutlich gehört. Gott, der Vater, hat den Menschen das Leben geschenkt. Der Sohn will ihnen die Hoffnung auf Gerechtigkeit bringen, damit die Menschen ein Ziel haben.

Sternchen, fragt nun Pawel wiederum, warum brauchen die Menschen ein Ziel?

Ja, sagt Sternchen und flackert wieder, da fragst du mich etwas sehr Kompliziertes. Ich glaube, die Menschen können nicht einfach leben und dabei glücklich sein. Sie wissen dann nicht, was sie machen sollen. Sie wollen eine Antwort darauf haben, was gut und was böse ist. Meist wollen sie das so genau wissen, dass sie es am Ende auch nicht mehr auseinanderhalten können. Weil sie nicht jetzt einfach leben können, brauchen sie ein Ziel: Wir werden eine Zeit erleben, in der wir alle gleich sind und ein jeder mit seinen Gaben dem anderen dient. Das wird eine gerechte Zeit sein. Diese Hoffnung hat mit dem Kind in Bethlehem ein Gesicht bekommen.

Das ist aber schon lange her, meint Pawel. Also das sind doch unendlich viele Katzenleben.

Ja, sagt Sternchen, und weil das solange her ist, und sich kaum jemand an diese Geschichte erinnert, liege ich unter dem Schrank, vom Spinnweb gefangen, aus dem du mich befreit hast.

Die Tür wird aufgeschlossen. Pawel entwitscht unter den Schrank. Man weiß ja nicht. Vielleicht hat er wieder etwas angestellt, für das er bestraft werden soll.

Guck mal, sagt Gerlinde, da ist der alte Stern, den wir gesucht haben. Sie hebt ihn auf und trägt ihn zum Fenster. Oh, sagt sie, so kann er nicht leuchten. Sie nimmt das Geschirrtuch und säubert Sternchen vorsichtig.

Das kitzelt, ruft er und streckt seine Zacken in alle Richtungen. Oh, wie das kitzelt. Hör auf!

Aber Gerlinde kann es nicht hören. Dann knipst sie ihn an. Haben wir noch Batterien, ruft sie in die Stube, wo ihr Heinrich statt eines passenden Adventsliedes eine alte, kratzige Single aufgelegt hat: Wie ein Stern am Himmelszelt singt der Schlagersänger ihrer Jugend.

Ach, Heinrich, du kannst einem die ganze Stimmung verderben, schmollt Gerlinde, schaut selber nach den Batterien, wechselt sie aus und hängt den Stern ins Fenster.

Schön, sagt sie. Ist er nicht immer noch herzzerreißend schön?

Pawel kommt unter dem Schrank hervor. Sterne, denkt er, darf man unter dem Schrank hervorholen.

Nach dem Abendbrot setzen sich Gerlinde und Heinrich auf die Wohnzimmercouch und betrachten den Stern im Fenster. Im Hintergrund laufen die Nachrichten der Tagesschau. Der Innenminister kündigt schärfere Asylgesetze an. Das christliche Abendland unter der Sonne der Hoffnungslosigkeit, kommentiert Heinrich. Gerlinde schüttelt den Kopf. Komm, sagt sie, lass uns wenigstens heute, und wenn es nur für fünf Minuten ist, den Anblick des lange vermissten Sterns genießen. Man muss sich auch mal aus der Welt nehmen können, wenn man sie ohne Zynismus ertragen will. Oder?

Du hast ja Recht, meint Heinrich. Es bleibt das Wunder schlechthin, dass die Hoffnung immer dann die stärkste Kraft ist, wenn alles ausweglos erscheint. Der Stern scheint auf einmal viel größer, heller und geradezu stolz. Pawel liegt auf Gerlindes Schoß und schnurrt laut und vernehmlich.

Ein Adventslied. Das kleine Katerchen, sagt der Stern zu seinem himmlischen Auftraggeber, hat es begriffen. Ist das nicht schön?

Ja, sagt Heinrich. Pawel macht es vor: Für ihn ist die Hoffnung ein warmes, wohliges Zuhause. Aber, wendet nun Gerlinde ein, kann man das noch denken, wenn auf der Insel Lampedusa der Friedhof ob der vielen Ertrunkenen auch keine einheimischen Toten mehr aufnehmen kann? Für einen Moment herrscht Stille im Hause, bis auf Pawels Schnurren.

Aber es war da ein Kind, das geboren wurde von der Maria und dessen Vater Joseph Zimmermann gewesen ist. Die Engel sangen zu seiner Geburt. Die Magier kamen aus dem Morgenland und brachten ihre Gaben. Die Hirten kamen und wussten, das sei einer von ihnen, von den ärmsten, von den am wenigsten angesehenen Leuten. Sie waren sich alle einig, dass sie etwas Großes gesehen hätten, erzählte Gerlinde gegen die Zeit. Und auch da mussten die Eltern auf die Flucht, weil die Kriegsknechte des Herodes den jungen Eltern die Kinder erschlugen. Sie mussten weg. Sie kamen wieder. Und irgendwann schrien sie: Kreuzige ihn! Es ist immer eine Geschichte gegen die Bitternis gewesen, Heinrich.

Und gegen das christliche Abendland. Heinrich kann es nicht lassen. Aber Recht hast du, meinte Gerlinde. Heinrich steht auf, sucht eine Schallplatte und legt sie schließlich auf: Karl Heinrich Waggerl liest mit seiner gutturalen Stimme: Und es begab sich …

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