Virtuell und physisch, digital und psychisch

Uns Menschen geht es gut, so gut wie nie zuvor. Wird gern behauptet. Skeptiker sehen das anders. Vor allem um die Zukunft machen sie sich Sorgen. Und tatsächlich, die Jugend mag dafür zu wenig gerüstet sein. Das Leben, meint sie, müsse „Spaß“ machen, nicht zuletzt die Arbeit. „Easy“ soll alles sein. Auch die Schule und, wenn überhaupt studieren, das Studium. Lieber ein Leben in der digitalen Virtualität als eines in der kalten Realität. Geradezu geheiligt wird das Prinzip: Wer nimmt, wer gibt – alle sind gleich!

Nicht alle unter den jüngeren sehen das so, Gott (oder wem auch immer) sei Dank, aber eben viele. Natürlich denken dann die Alten an ihre eigene Jugend. An die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, an Hunger und Entbehrung, an all die Mühen und nicht zuletzt auch an die physischen Anstrengungen des täglichen Lebens. Der Wiederaufbau dann. Ohne die Technik von heute wurden Ruinen abgerissen und Häuser neu erbaut. Oft mit bloßen Händen. Und – nota bene! – ohne Smartphone.

Im Osten Deutschlands sind die Anfangsjahre besonders krass gewesen. Während die Amerikaner bestrebt waren, dem Westen Deutschlands zu wirtschaftlicher Stärke zu verhelfen, ließ die Sowjetunion in ihrer Besatzungszone rund 3.000 Betriebe demontieren. Bis 1953 büßte die damalige DDR allein dadurch rund 30 Prozent ihrer noch verbliebenen industriellen Kapazität ein, was in etwa einem Betrag zwischen 50 und 100 Milliarden Mark entsprach. Für die damaligen Verhältnisse eine riesige Summe. Obendrein die zwangsweise Übernahme der sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. All die Misshelligkeiten galt es durch Arbeit, durch – aus heutiger Sicht – unzumutbare Anstrengung zu bewältigen. Nach Urteil von Günter Grass waren es die siebzehn Millionen Ostdeutschen, denen, sozusagen stellvertretend, die Hauptlast des von allen Deutschen begonnenen und verlorenen Krieges aufgebürdet wurde.

Die Alten meckern
Und Spaß? Den gab es damals trotzdem. Spaß von der selbstverdienten Art war das, nicht der durch die Arbeit der Eltern oder der Großeltern ermöglichte. Und nun meckern die Alten an der heutigen Jugend herum. Besonders sticht ihnen ins Auge, was da so alles unter „Digitalisierung“ läuft. Nicht, dass sie, die Alten, etwas dagegen hätten, auf digitale Weise mal rasch einen Begriff nachzuschlagen. Lexika und überhaupt Sachbücher werden kaum noch gebraucht, das erkennen auch sie. Wer sich zudem das Englische zu eigen macht, verfügt dank Internet praktisch über das gesamte Weltwissen. Großartig ist das, keine Frage! Auch muss man kaum noch mit der Hand schreiben, die klapprige Schreibmaschine hat ausgedient, ebenso der Gang zum Briefkasten. Nein, all das läuft heutzutage digital.

Das momentane Nonplusultra digitaler Erlebensmöglichkeiten ist das 3D-Fernsehen. Die Welt wird uns hier so überzeugend vorgespiegelt, dass es fast schon zum Problem gereicht, wenn man deren Realität bezweifelt. Allein das Haptische fehlt da noch, der Geruch und der Geschmack. Doch sollen das Fühl-, Geruchs- und Geschmackskino im Anmarsch sein. Man stelle sich vor, wie sich, perfekt in Szene gesetzt, ein seit 70 Millionen Jahren ausgestorbener Saurier auf uns stürzt, seine Zähne in unseren Hals gräbt und zugleich einen bestialischen Geruch verbreitet. Eine Chemie, von der wir nicht wissen, wo sie bei uns ansetzt, ob in der Nase oder auf der Zunge. O tempore, o mores!, rief einst Cicero. Und so wird wohl auch in aller Zukunft zu rufen sein.

Momentan aber erklingt überall ein anderer Ruf, der nach Digitalisierung. Und das mit einem befremdenden Anspruch auf Fortschrittlichkeit, wiewohl man lenkungsseitig Jahre der Entwicklung – anders als in so manchem Entwicklungsland – verschlafen hat. Dabei können sich die wenigstens unter uns vorstellen, wie das eigentlich geht, das Digitale. Ein Finger (lat. digitus) reicht: Daumen hoch oder Daumen runter. Oder eben Eins oder Null. Allein die Reihenfolge entscheidet, üblicherweise die der Einsen und Nullen, was da zum Programm wird, ob am Ende eine Sinfonie oder ein Kriminalfilm herauskommen, ein Urlaubsbild, ein Liebesbrief oder die Weltnachrichten, eine Armbanduhr oder ein Autoteil. Praktisch alles, was der Mensch tut, können auch die Nullen und Einsen. Ebenso das, was er selbst lieber nicht tun möchte, oder nicht in der Lage ist zu tun. Mit Nullen und Einsen lassen sich Flugzeuge steuern, Drohnen und Rübenerntemaschinen. Auch Abwehr- und Angriffsraketen. „Alexa“ dirigiert auf Zuruf das Radio, das Gartentor, das Backwunder, die Spül- und die Waschmaschine. Mehr noch: Mit Einsen und Nullen lassen sich der Garten zu einem unkraut- und ungezieferfreien Blühwunder trimmen, und das Gras in dessen Mitte auf Englischer Rasen.

Tippen und Wischen
Was die Altvordern an der ganzen Digitalisierei stört, ist etwas anderes. Die Spielkonsolen und vor allem die ständige Tipperei und Wischerei auf den allgegenwärtigen Smartphones sind es. Der persönliche Kontakt und das persönliche Erleben gingen flöten, befürchtet man im Lager der Seniorinnen und Senioren. Und tatsächlich, das Musizieren und Singen und selbst der Sport werden am liebsten nur noch als Zuhörer und Zuschauer betrieben. Wenn früher einer einen Ball hatte, waren immer auch Freunde da, die ihn zum Spielen aufforderten. Heute besitzen zwar die meisten einen Ball, oft sogar einen sehr teuren, die wenigsten aber haben Freunde, die Lust und Zeit zum Spielen haben. Und wenn Freunde, dann am ehesten solche, mit denen man per Facebook oder WhatsApp etwas „teilt“. Wem schon liegt es heute noch, draußen im Wald oder auf der Heide mit Holzschwertern Räuber und Gendarm zu spielen?

Das eben war früher anders. Ob besser, können nur diejenigen beurteilen, die das eine wie das andere kennen. Nicht, dass die Alten allesamt am Konservatismus erstickten, von wegen früher, beim Kaiser, wäre alles besser gewesen. Umfragen haben ergeben, dass inzwischen 79 Prozent der 60- bis 69-jährigen online sind, und 45 Prozent der über 70-jährigen. O Gott Umfragen, ganz klar, Vorsicht! Und dennoch, so ganz falsch werden diese Zahlen nicht sein. Auch lassen sich diejenigen unter den Älteren, die ein Smartphon besitzen und mit ihm umgehen können, von ihrem Schatz nicht bedenkenlos vereinnahmen. Selbst jene nicht, die Social Media nutzen.

Digitale Demenz?
Da ist aber doch wohl das Problem mit der digitalen Demenz, wie sieht es damit aus? Der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer machte den Begriff zum Titel eines seiner Bücher. Seitdem ist er aus der Medienpsychologie nicht mehr wegzudenken. Wieso Spitzer als Psychiater ausgerechnet von „Demenz“ spricht, bleibt im Dunkeln, da der Begriff allein für das Erlöschen vormals vorhandener geistiger Fähigkeiten zu verwenden ist. Sicherlich mag bei einem Kind oder einem Jugendlichen die vereinseitigende Hinwendung zum Virtuellen problematisch sein. Die Welt der direkten Erfahrung wird dann nicht genügend erschlossen, sowohl geistig als auch körperlich nicht. „Verblödung“ aber? Womöglich eher das Gegenteil. Denn wie bei Älteren nachgewiesen, wirkt sich die Betätigung am Computer bzw. Smartphone auf den Geist fördernd aus. Andererseits lässt sich zeigen, dass von einem Lesestoff weniger im Gedächtnis hängen bleibt, wenn er dem Bildschirm entnommen wird.

Bildschirmbilder sind nun mal von der flüchtigen Art. Bedrucktes Papier, wie das Ihnen, verehrte Leserin, verehrter Leser, in diesem Moment vorliegende, wird aller Wahrscheinlichkeit nach seinen Wert behalten. Eben, weil es nicht nur als Abglanz, sondern durch Blättern und Greifen auch physisch erfahrbar ist. Prof. Dr. Gerald Wolf

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