Der Darm: Beschützer und auch Schädiger

Vor hundert Jahren wurden die Bakterien im Darm noch als gefährliche Eingeweidebewohner angesehen.   Heute wird ihnen als Unterstützer des Immunsystems, Mitspieler bei Multipler Sklerose und dem Schlaganfall viel Aufmerksamkeit zuteil.

Ich habe vor Jahren den populärwissenschaftlichen Bestseller „Darm mit Charme“ gelesen. Dabei ist mir allerdings nicht klar geworden, wo bei diesem Organ der Charme liegen soll. Ein französischer Moralist und Literaturnobelpreisträger des 20. Jahrhunderts, Albert Camus („Die Pest“, „Der Fall“), hat einmal über den Charme gesagt: „Charme ist die Art, wie ein Mensch ,Ja' sagt, ohne dass ihm eine bestimmte Frage gestellt worden ist“. Danach ist der Charme also ein Produkt des Gehirns, das ein nicht ausgesprochenes Anliegen in eine für jedermann verständliche und bejahende Körpersprache übersetzt. Wie kann uns dann aber der Darm als charmant erscheinen? Hat der Darm etwa doch einen Zugriff auf das Gehirn?

Heute hat sich mein Horizont über den Darm etwas erweitert und ich habe inzwischen auch von einer „Darm-Hirn-Achse“ gehört. Auch die Forschung nimmt den Darm immer mehr in den Fokus, genauer gesagt, das Zusammenleben des Vermieters mit seinen bakteriellen Untermietern. Diese, das Darmmikrobiom – ich bevorzuge den blumigeren Ausdruck Darmflora – soll rund 100 Billionen verschiedener Bakterienstämme (rund 1 Kilo) umfassen, und seinem Vermieter von vielfältigem Nutzen sein. Selbst die Bienen und andere Insekten besitzen eine solche Darmflora – als Verdauungsunterstützer. Ein Eingriff in die Darmflora stört das Zusammenleben zwischen den Untermietern und dem Vermieter, wie es fast jeder als Durchfall nach einer oralen Antibiotika-Therapie schon einmal erlebt hat.

Als am Ende des 19. Jahrhunderts die Bakterien als Krankmacher entdeckt wurden, war es naheliegend die Darmflora als Feind im Körper zu sehen. Die Ärzte riefen zum Kampf gegen diese Krankheit („intestinale Toxämie“) auf. Ein extremer Therapievorschlag war die Entfernung des Dickdarms. Unser Immunsystem müsste doch eigentlich der Darmflora auch den Kampf ansagen? Dessen Handlungsmaxime ist ja, wenn etwas Fremdes im Körper ist, dann muss es vernichtet werden. Da vom Immunsystem aber keine Reaktion kommt, muss dieses irgendwie gelernt haben, die Untermieter zu tolerieren. Das ist tatsächlich auch der Fall, dank der regulatorischen T-Lymphozyten. Begonnen hat das neue Interesse an der Darmflora mit dem schwer zu verstehenden Sachverhalt, dass der eine bei gleicher Zufuhr von Nahrungskalorien immer dicker wird, wogegen der andere sein Gewicht behält. Es wurde deshalb vermutet, dass die Darmflora ihrem Wirt in einem unterschiedlichen Grade hilft, dem Verdauungsbrei die Kalorien zu entziehen.

„Kaiserschnittbabys“ haben eine andere Darmflora

Unser Immunsystem wird auch durch die bakteriellen Untermieter des Darms gestärkt. Beim traditionellen Gebären wird der Darm des Neugeborenen von mütterlichen Bakterien besiedelt, wogegen sich bei Kaiserschnitt-Geburten die Besiedlung verzögert. Eine breit angelegte Studie hat nun einen möglichen Zusammenhang zwischen durch Kaiserschnitt geborenen Kindern und deren späteren gesundheitlichen Problemen aufgedeckt. Laut einem Artikel in der Zeitung „Die Welt“ haben dänische Forscher dazu den gesundheitlichen Werdegang von 1,9 Millionen Kindern der Jahrgänge 1977 bis 2012, die durch vaginale Geburt oder Kaiserschnitt zur Welt gekommen sind, von der Geburt bis zur Pubertät verfolgt. Die „Kaiserschnittbabys“ hatten in ihrem späteren Leben häufiger Probleme mit Asthma (um 23 Prozent), Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa (um 20 Prozent) und Immundefekten (um 46 Prozent) zu kämpfen. Da sich das bakterielle Spektrum von Neugeborenen nach vaginaler Geburt und Kaiserschnitt-Geburt unterscheidet, erfolgt bei letzteren die bakterielle Erstbesiedlung auch durch die Falschen (Hautkeime der Mutter und des OP-Personals). Bakterien (Bacteroides, Bifidobacterien, Lactobacilli), die an der Entwicklung des Immunsystems beteiligt sind, gibt es bei den „Kaiserschnittbabys“ viel weniger. Es wird auch vermutet, dass durch den fehlenden Geburtsstress bei der Kaiserschnitt-Geburt die Atemwege der Neugeborenen vorerst schlechter angepasst sind.

Auch bei Multipler Sklerose redet der Darm mit

Angesichts des heutigen Wissensstandes scheinen sich die bakteriellen Untermieter gegenüber dem Gehirn wie „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ in der Novelle von Robert Louis Stevenson zu verhalten. Vorlage der Novelle war das wahre Leben eines Kunsttischlers aus Edinburgh, der ein Doppelleben führte. Tagsüber war er Musterbürger, nachts Krimineller. In gewisser Weise verhält sich die Darmflora ähnlich, sie kann das Gehirn krank machen, aber auch schützen.

Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Düsseldorf wurde 2015 berichtet, dass der Darmflora eine wesentliche Bedeutung als Auslöser der Multiplen Sklerose (MS) zukommt. Von dieser Autoimmunerkrankung sind allein in Deutschland 170.000 bis 240.000 betroffen (Krankheitskosten pro Jahr pro Patient 40.000 Euro). MS wird häufig zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr diagnostiziert, Frauen sind 2,5-mal häufiger betroffen als Männer und in Europa besteht ein Nord-Süd-Gefälle. Bei MS greift das körpereigene Immunsystem die Nervenbahnen in Schüben an, wodurch es zu irreparablen Schäden der Signalleitung kommt. Mit genetisch veränderten Mäusen wurde nun herausgefunden, dass diese eine der MS ähnliche Erkrankung entwickelten, wenn sie sauber, aber nicht keimfrei untergebracht waren. Im Gegensatz dazu war eine keimfrei gehaltene Kontrollgruppe vor der Erkrankung komplett geschützt. Wurde nun in den Darm von Mäusen der Kontrollgruppe die Darmflora erkrankter Mäuse übertragen, entwickelte sich bei diesen MS kurze Zeit später. So scheint es naheliegend, dass die MS durch die Darmflora ferngesteuert wird. Für eine Mitwirkung der „Darm-Hirn-Achse“ spricht auch eine Korrelation zwischen der Zusammensetzung der Darmflora und der psychischen Befindlichkeit. So besitzen depressive Patienten (mit und ohne Antidepressiva-Behandlung) deutlich weniger Bakterien der Gattung Coprococcus und Dialister. Man weiß schon lange, dass die Ernährung die Darmflora verändert. Könnte es also sein, dass unser Essen die Häufigkeit und den Verlauf der MS beeinflusst? Dafür gibt es in der Tat Hinweise. Die Japaner stellen ihre traditionellen Essgewohnheiten mehr und mehr auf die der Westeuropäer um. Auffällig ist, dass mit dieser Umstellung das Auftreten der MS zugenommen hat. Auch gibt es in Westeuropa Anzeichen dafür, dass MS durch einen hohen Kochsalzgehalt und dem Vorkommen bestimmter Fettsäuren im Essen gefördert wird. Angesichts solcher möglichen Zusammenhänge zwischen der MS und dem Essen denkt man daran, bestimmte Bakterien der Darmflora mit „Leckerli“ (Ballaststoffen = Präbiotika, wie Artischocken, Chicorée, Weizen, Roggen oder Bananen) zu fördern und den Wirt zusätzlich mit „guten“ Bakterien (bestimmte Jogurte = Probiotika) zu versorgen.

Die Darmflora kann den Schaden bei Schlaganfall begrenzen

Als wenn ein Schlaganfall nicht schon für sich ein großes Problem wäre! Viele der Betroffenen entwickeln danach auch noch eine Lungenentzündung. Aber woher kommen die Bakterien, die die Entzündung verursachen? Bei einem Schlaganfall kommt es nicht nur zum Gefäßverschluss, sondern der Darm wird auch durchlässiger und einige Bakterien können ihn deshalb verlassen. Außerdem kann der Darm den Schlaganfall durch von der „Darm-Hirn-Achse“ transportierte Signale begrenzen. Belege dafür kommen von Untersuchungen an Mäusen, deren Darmflora mit Penicillin-ähnlichen Antibiotika verändert wurde. Nach einer solchen „Antibiotika-Kur“ wurde bei den Mäusen ein Schlaganfall (operativ) ausgelöst. Zur großen Überraschung ergab sich dabei, dass die mit Antibiotika behandelten Mäuse einen deutlich geringeren Gehirnschaden hatten als die Mäuse der Kontrollgruppe (ohne „Antibiotika-Kur“). Ein geringerer Hirnschaden wurde auch dann gefunden, wenn die Mäuse der Kontrollgruppe vor dem Schlaganfall einen Stuhltransfer von Antibiotika behandelten Mäusen erhalten hatten.  

Gallensäuren sind mehr als die Assistenten der Verdauung

Übrigens, das Gehirn hat nicht das alleinige Privileg, Signale aus dem Darm zu empfangen. Auch andere Organe, wie die Leber oder die Muskulatur erhalten diese in Gestalt der Gallensäuren. Die Popularität der Gallensäure beruhte lange Zeit ausschließlich auf ihrer Wirkung als Unterstützer der Fettverdauung. Bei extremer Adipositas ist die Magen-Bypass-Operation als Ultima Ratio angesagt. Dabei wird das Aufnahmevermögen des Magens für das Essen bis zu 70 Prozent verkleinert. Dadurch verringert sich nicht nur das Gewicht, sondern im Blut zirkulieren auch mehr Gallensäuren. Diese bringen den bei Adipositas entgleisten Zuckerstoffwechsel wieder einigermaßen ins Lot. Die Wissenschaft erklärt das damit, dass Gallensäuren als Signale an Sensoren der Körperzellen „klingeln“ und zu mehr Ordnung im Stoffwechsel aufrufen.

Noch eine letzte Bemerkung über den Charme des Darmes. Die meisten unter uns verstehen unter Charme eine Anziehungskraft, die vom gewinnenden Wesen einer Frau oder eines Mannes ausgeht. Wenn man diese Sicht auf den Darm überträgt, dann üben doch seine neuen Wirkungen im Körper eine die Neugier reizende Anziehungskraft aus. Peter Schönfeld

Prof. Dr. Peter Schönfeld: Chemiestudium und Promotion an der TU Dresden (1966 – 1973). Von 1973-1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Organische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR. Habilitation 1991 und seit 1995 Hochschuldozent für Biochemie an der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

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