Es bröckelt

Eine Frage wird heiß diskutiert: Ist die Handball-Bundesliga noch die „stärkste Liga der Welt“? Ein Anwortversuch. Es ist mittlerweile zu einer Gretchenfrage des internationalen Klub-Handballs geworden: Darf sich die deutsche Liga noch die beste der Welt nennen – oder hat sie dieses schillernde Prädikat an die französische Eliteklasse abgeben müssen? Es ist, wie man sehen wird, eine Sache, an der sich die Geister scheiden. Die die Wogen der Diskussion hochschlagen lässt. Weil es eben nicht nur um eine Abwandlung der berühmten Spieglein-Frage „Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ geht, sondern weil dahinter elementare Probleme des modernen Handballs sichtbar werden.

Aber schön der Reihe nach. Seit Urzeiten zählten die Elite-Spielklassen im Mutterland des Handballs – ob nun als gesamtdeutsche Bundesliga oder früher in West und Ost – zu den führenden in der Welt. Hier befand sich der Hort des Spiels mit der kleinen Lederkugel schlechthin. Die oberste deutsche Liga drückte der Entwicklung des schnellen Ballspiels ihren Stempel mit auf. Sportlich allemal und später vor allem erst recht wirtschaftlich. Selbst wenn zwischenzeitlich einzelne Teams aus Spanien (FC Barcelona, Ciudad Real) den deutschen Vereinen in der absoluten Spitze den Rang abliefen. Was Ausgeglichenheit und Spielstärke aller Teams anbetraf, war Deutschland unerreicht. Freilich, zur Blütezeit des Staatshandballs im Ostblock mag es noch, was die gesamte Liga anbetrifft, so etwas wie milde Konkurrenz gegeben haben, zuallererst in Jugoslawien und der UdSSR.

Wer genau den Begriff der Bundesliga als stärkste der Welt postulierte und wann er erstmals in die Debatte geworfen wurde, lässt sich historisch gar nicht mehr exakt zurückverfolgen. Festzuhalten bleibt: Es existiert kein offizielles Zertifikat dafür, vergeben etwa von der Europäischen (EHF) oder der internationalen Handball-Föderation (IHF).  Sicher mögen neue Vermarktungsstrategien und die zunehmende Dominanz des Geldes ihren Anteil daran gehabt haben, einen solch geschmeidigen Begriff einzuführen. Bei Verpflichtung ausländischer Stars machte es sich gut, den Umworbenen (neben dem Salär selbstverständlich) mit der Aussicht zu locken, im „Klub der
Besten“ mitmischen zu dürfen.

Irgendwann war es einfach so: Keiner widersprach mehr ernsthaft dem Eigenlob, dass sich die Deutschen da ans Revers geheftet hatten. Und es hörte sich doch auch prima an: Wir besitzen die stärkste Handball-Spielklasse der Welt, bei uns ist wirklich das Beste vom Besten zu besichtigen. Das lockt Zuschauer, aber eben – vielleicht wichtiger noch – auch Sponsoren. Zumal die Fakten den Anspruch, je weiter die Zeit voranschritt, zu belegen schienen. Viele Weltstars  zog es ins gelobte Land, selbst für Leute der Mittelklasse hab es hier richtig gutes Geld zu verdienen. Dreimal hintereinander (2012 bis 2014) standen gleich zwei deutsche Vertreter im Final Four der Champions League. Beginnend mit dem SC Magdeburg 2002 gewannen fünfmal Bundesligisten die – trotz der alljährlichen sogenannten Klub-Weltmeisterschaft in Katar – begehrteste und wertvollste Trophäe im Vereinshandball. Im EHF-Cup, wo sich die Vertretungen hinter den absoluten Spitzenmannschaften tummeln, fanden sich mit einer Ausnahme seit 2004 sogar nur noch deutsche Namen auf der Siegerliste.

Doch spätestens 2017 war es vorbei mit der Herrlichkeit. Das Finalturnier der Champions League in Köln ging ohne deutsche Beteiligung über die Bühne. Augenwischen allerseits. Ein Novum. Ein Betriebsunfall, meinten viele noch. Im Jahr darauf dasselbe Bild. Plötzlich war guter Rat teuer. Schon zuvor hatten einige Fachleute, wie der Kieler Manager Torsten Storm, begonnen zu zweifelten, ob das Image von der „stärksten Liga der Welt“ noch uneingeschränkt weiter aufrechterhalten werden könne. Spätestens seit Mai 2018, als beim Finalturnier plötzlich dreimal Frankreich und Deutschland wiederum gar nicht vertreten war, nahm die Diskussion Fahrt auf. Aus einzelnen Stimmen wurde ein regelrechter Chor. Und es waren eben nicht nur ewige Neider und Nörgler, die sich da meldeten, sondern durchaus anerkannte Fachleute.

Selbst vom deutschen Liga-Präsident Uwe Schwenker gab es einen Rüffel an die eigenen Top-Vereine. „Auch die Klubs müssen ihre Hausaufgaben machen“, erklärte er. Der „Wettbewerb fordert unsere Klubs und uns dazu auf, in Zukunft wieder Schritt zu halten und vielleicht einiges zu ändern“, sagte Schwenker, der die Kieler einst als Manager groß gemacht hatte. Eine Liga-Verkleinerung sei zwar kein Thema, ließ er wissen, die Topteams brauchten aber eine höhere Dichte an Weltklassespielern. Weil, so lässt sich schlussfolgern, sonst eben der eigene Anspruch von der stärksten Liga nicht mehr zu rechtfertigen sei.

In dieselbe Kerbe schlug dieser Tage Erfolgstrainer Nikolaj Jacobsen vom DHB-Pokalsieger Rhein-Neckar Löwen. „In der Spitze ist die Bundesliga nicht mehr die beste Liga der Welt. Diese Zeiten sind vorbei”, erklärt er unzweideutig. Es sei eben kein Zufall, dass zuletzt zweimal in Folge keine deutsche Mannschaft beim Final Four der Champions League vertreten war. „In dieser Saison sind Flensburg und wir auch nicht unbedingt die heißesten Anwärter darauf – und dann würde zum dritten Mal ein Bundesligist fehlen", sagte der Däne, der in seiner Heimat gleichzeitig Nationaltrainer des Olympiasiegers ist.

Unübersehbar: Frankreich holt mit Riesenschritten auf. Oder zog, je nach Sichtweise, bereits vorbei. In den vergangenen Jahren stieg das Niveau im Nachbarland konstant. Aus 14 Teams besteht die Liga; hierzulande sind es 18. Anders als in Ländern wie Ungarn, Spanien oder Polen, wo maximal zwei Klubs das Meisterschaftsrennen problemlos dominieren, haben heute in der Ligue Nationale drei bis vier Mannschaften durchaus eine realistische Chance, um den Titel mitzuspielen. Und machen wir uns nichts vor: Mehr sind es in Deutschland am Ende ebenfalls nicht. Selbst wenn die hiesige Liga immer noch darauf verweisen kann,

die am ausgeglichensten besetzte von allen zu sein. Die Hauptursache für die zunehmend leidende Konkurrenzfähigkeit der Bundesligisten auf internationalem Parkett sieht Jacobsen einmal mehr in der viel diskutierten hohen Belastung für die Spieler. „Die Stars gehen lieber nach Veszprém, Kielce, Barcelona, Nantes, Montpellier oder Paris. Dort bekommt man mehr Geld für weniger Strapazen. Das hat sich bei den Top-Spielern herumgesprochen", zeigte sich der 46-Jährige besorgt.

Angedeutet hatte sich diese Entwicklung eher schleichend. Viele wollten sie vielleicht auch nicht sehen. Es ist tatsächlich schon eine Weile her, dass sich fast die komplette Nationalmannschaft des seit Jahren die Weltspitze bestimmenden Trikolore-Teams aus der deutschen Liga verabschiedete: Nikola Karabatic, Thierry Omeyer, Daniel Narcisse, Bertrand und Guillaume Gille. Die heutigen Stars der Franzosen kommen gar nicht erst. Die Namen derjenigen, die die Bundesliga verließen, ließe sich fortführen: Slawomir Szmal, Karol Bielecki (beide Polen), Momir Ilic (Serbien), Kim Andersson (Schweden), Aron Palmarsson (Island). Schon 2015 zog es der tschechische Welthandballer Filip Jicha vor, statt in Kiel lieber in Barcelona weiter sein Geld zu verdienen. Allein in diesem Sommer kehrten die Toft-Hansen-Brüder vom Olympiasieger Dänemark, deren Landsleute Kevin Möller und Casper Mortensen (immerhin hierzulande Torschützenkönig 2018), der Schwede Kim Ekdahl du Rietz und der Franzose Kentin Mahe der Bundesliga den Rücken. Im Jahr zuvor hatte sich schon der deutsche Nationalmannschaftskapitän Uwe Gensheimer nach Paris verabschiedet.

In der jetzigen Diskussion meldete sich Gensheimer zu Wort. „Der entscheidende Vorteil in Frankreich ist die Terminierung der Spiele. Wir haben in Frankreich im Sommer bis zu vier Wochen mehr Pause, spielen nicht mehr nach Weihnachten und haben dadurch mehr Möglichkeiten zu regenerieren. Das Ganze bei gleichem oder teilweise sogar höherem Gehalt. Die Handball-Bundesliga muss deshalb sehr genau hinterfragen, warum sich die Spieler so entscheiden.“

Gerade Verletzungen sind eine Folge der hohen Überbeanspruchung. Darauf wiesen Deutschlands Nationalmannschafts-Akteure Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek jüngst wieder hin. Zu viele Spiele, so der Kern ihrer Kritik, zerstörten die Körper der Spieler und  gefährdeten die internationale Konkurrenzfähigkeit der Bundesliga. Vor der gestiegenen Zahl der Verletzungen warnt seit langem Kiels Star-Trainer Alfred Gislason. „Ich habe mir bei meiner Suche nach Verstärkung“, berichtete er schon vor geraumer Zeit, „weltweit jeden Halblinken zwischen 20 und 24 Jahren angeschaut – fast jeder hat schon zwei Kreuzbandrisse hinter sich."

Freilich spiegeln die Zweifler nur die eine Seite des Problems wider. Es existiert ebenso eine Riege derjenigen, die die deutsche Eliteklasse nach wie vor als die stärkste der Welt sehen. An vorderster Front kämpft da die deutsche Handball-Ikone Stefan Kretzschmar. „Die Diskussionen der letzten Tage haben mich einfach genervt“, schrieb er jüngst. „Die DKBHBL ist die stärkste Liga der Welt und ich liebe diese Liga. Egal wo ich hinkomme – überall erlebe ich Handball-Enthusiasmus. Identifikation mit dem Team seiner Region. Das ist Sport. Das ist Handball.“ Die Liga müsse nicht umdenken, schlussfolgert er. Eine gefährliche Prämisse. „Warum denn?“, so der heutige Sky-Experte weiter. „Muss die Liga sich entschuldigen, so erfolgreich zu sein?“ Nur, welche Erfolge meint er? Die in der Champions League, und das ist nun mal international der wichtigste Gradmesser, können es jedenfalls gewiss nicht mehr sein.

Magdeburgs Cheftrainer Bennet Wiegert sieht sich ebenso wie Hannovers Coach, der spanische Spitzentrainer Carlos Ortega („Es ist im Moment ohne Zweifel die beste Liga der Welt“), an Kretzschmars Seite:  „Derartigen Meinungen (Die Liga habe ihren Spitzenplatz verloren, d. Red.) kann ich nicht zustimmen. In Deutschland gibt es eben nicht nur zwei, drei oder höchstens vier Spitzenteams wie in Frankreich, Ungarn oder Spanien, sondern eine Ausgeglichenheit, die unerreicht ist“, sagte er MAGEBURG KOMPAKT. „Bei uns kann in der oberen Tabellenhälfte jeder nahezu jeden Tag jeden schlagen. Das ist für mich das entscheidende Kriterium für die Stärke einer Liga.“ Natürlich sei die Fluktuation von Topspielern nicht zu übersehen, räumt Wiegert ein. „Darin liegt auch eine gewisse Gefahr für die Liga. Aber bei denen, die gehen, handelt es sich in der Mehrzahl um ältere Spieler. Viele von denen wollen sich den harten Job in Deutschland und die damit verbundenen Belastungen nicht mehr antun. Sie gehen in Länder, wo sie pro Saison vielleicht eine Handvoll Begegnungen haben, in denen es richtig zur Sache geht. Sie werden körperlich also nicht so beansprucht wie hier, können dadurch ihre Laufbahn um ein paar Jahre ausdehnen. Das ist für Profis nicht unwichtig, der Körper ist ihr Kapital. So können sie länger gutes Geld verdienen.“

In zwei Dingen ist der Gruppe um Kretzschmar natürlich kaum zu widersprechen: Wirtschaftlichkeit und Begeisterung. Mit einem Jahresumsatz von 100 Millionen Euro steht die deutsche Handballliga (HBL) nach Angaben des „Manager Magazins“ im internationalen Vergleich mit ihrem neunstelligen Gesamtumsatz konkurrenzlos da. „Keine andere Spielklasse kommt an die Marke von 100 Millionen Euro heran, keine andere nationale Handballliga hat in der Spitze so viele Top-Clubs wie die HBL.“

Auch in Sachen Begeisterung und Zuschauerzahlen ist Schwarz-Rot-Gold nach wie vor spitze. In Ländern wie Ungarn, Spanien oder Polen kommen zu Top-Partien manchmal kaum 1.000 Besucher in die Hallen. Selbst Frankreich reicht bei weitem nicht an die deutschen Zahlen heran. „Die Franzosen“, erklärt Landeskenner Dominik Klein, der zuletzt die Farben des Champions-League-Finalisten HBC Nantes trug, „schauen neidisch auf unsere Zuschauerzahlen und auf die Begeisterung, die es in Deutschland für den Handball gibt.” Mit rund 800.000 Aktiven in 5.000 Vereinen ist Deutschland das zahlenmäßig stärkste Land in dieser Sportart.

Was wollt ihr denn, könnte mancher nun resümieren und sich zurücklehnen, es ist doch (fast) alles paletti. Ja, wenn da eben nicht der vermaledeite Leistungsverlust in der absoluten Spitze und die Abwanderungslust der Stars wären. Der deutsche Handball sollte das Menetekel an der Wand nicht übersehen. Das Image der „stärksten Liga der Welt", sofern es denn noch zutrifft, es bröckelt. Rudi Bartlitz

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