Der ewig böse Staat

Volk und Staat – das ist wohl keine Liebesheirat. Nie genügt unten, was oben verordnet wird. Während sich die Welt offenbar schneller dreht, erscheinen staatliche Institutionen oft wie versteinerte Statuen. Doch blicken wir als Bürger mit den Ansprüchen an die Organisation der Gesellschaft auch auf die eigenen Maßstäbe und erkennen, wie eine steigende Flut an Bürgererwartungen die staatliche Reglementierung weiter verdichtet?

Seit den alten Griechen versuchen sich Denker an philosophischen Erklärungen über den Staat, seine politischen Fundamente sowie dessen Institutionen. In Platons staatstheoretisch wichtigstes Werk, der „Politeia“ – einige griechische Handschriften des Textes geben als Untertitel „oder über das Gerechte“ (êperi tou dikaiou) an. Das ideale Gemeinwesen hat den Zweck, die Idee des Guten zu realisieren und die Bürger in diesem Sinne zu erziehen. Mit der Volksherrschaft hat Platon wenig am Hut. Er sieht einen Grundfehler in der Demokratie im Übermaß an individueller Freiheit zu Lasten des Gemeinwesens und in der politischen Teilhabe unvernünftiger, eigennütziger Personen. Gedacht und geschrieben wurde schon viel über die Verfasstheit des Staates. In der Antike von Platon bis Cicero, im Mittelalter von Augustinus von Hippo bis Martin Luther, in der Neuzeit Machiavelli gefolgt von den Aufklärern Thomas Hobbes, Imanuel Kant und Friedrich Hegel. Während bis dahin die Vorstellung über eine aristokratische Grundordnung vorherrschte, entstehen bald liberale und nationale Vorstellungen bis Karl Marx die sozialistische und kommunistische Theorie ausbaut. Die Moderne bestimmen Schriften von John Rawls, Jürgen Habermas und Michel Foucault.
Alle theoretischen Diskurse über Gerechtigkeit, Mitwirkungsmechanismen und Menschbildgrundsätze bleiben jedoch in der Praxis des Staates nur abstrakt geistige Sphäre. Obwohl allgemeine Wahlen, abstrakte Mitbestimmung und Widerspruchsgarantien gegen staatliches Handeln existieren, zeigen sich im Volk allgegenwärtige Ohnmachtsgefühle gegenüber einer reglementierenden Exekutive. Staatsphilosophische Gedanken oder maßgebliche Einflüsse durch das Wirtschaftssystem auf die heutige staatliche Konstitution müssen an dieser Stelle ausgeklammert werden. Sie würden den Rahmen der Betrachtung sprengen. Hier geht es vielmehr darum, aktuelle Aspekte des deutschen Staates sowie Sichtweisen und Ansprüche seiner Bürger aufzuzeigen und wie sich die Organisation des Gemeinwesens darunter verändert hat. So allgemeingültig auch viele staatsphilosophischen Überlegungen über liberale oder humanistische Ansichten heute sein mögen, in der konkreten Praxis stoßen sie immerfort an Grenzen.
Zunächst soll ein Blick auf historische Entwicklungen Deutschlands die aktuelle institutionelle Ausgestaltung verdeutlichen: Mit der Bildung des deutschen Nationalstaates waren zunächst aufklärerische Ansätze für die bürgerliche Mitbestimmung realisiert. Erfolgreiche Revolutionen – außer der friedlichen von 1989 auf dem DDR-Territorium, die einen kompletten Systemwandel erzwangen – fehlen in der deutschen Geschichte. Zahlreiche Bürgerrechte wurden zunächst von oben verordnet, selbst das Wahlrecht. Nach Anfängen im 16. Jahrhundert (Herzogtum Pfalz-Zweibrücken 1592, Straßburg 1598) wurde die Allgemeine Schulpflicht im 17. Jahrhundert in Sachsen-Gotha (1642), Braunschweig-Wolfenbüttel (1647) und Württemberg (1649) eingeführt. Erst im 18. Jahrhundert folgte Preußen (1717). Zuletzt führte Sachsen 1835 die allgemeine Schulpflicht ein. 1919 wurde sie in der Weimarer Verfassung einheitlich für ganz Deutschland festgeschrieben. Ab 1881 verabschiedet der Reichstag auf Drängen des Reichskanzlers Otto von Bismarck mehrere Gesetze zur sozialen Sicherung. Am 1. Januar 1891 tritt das Gesetz der Invaliditäts- und Altersversicherung in Kraft. Im 20. Jahrhundert erweitert sich der Reigen zahlreicher Gesetze über Arbeits- und Arbeitslosenregelungen, Urlaubs- und Betriebsverfassungsgesetze. Nach Ende des 2. Weltkriegs entstehen mit dem Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft in der BRD als auch im sozialistischen Teil Deutschlands viele weitere Normen. Heute existiert offensichtlich kein Lebensbereich, der nicht durch gesetzliche Vorschriften geordnet wäre. Über Wirtschaft, Umwelt und Naturschutz, Gesundheit, Bildung, Familien, Verkehr, Sport, ja selbst Freizeit, Kunst und Kultur, Verbraucherschutz sowie Arbeitssicherheit stehen Verwaltungsapparate, die vorschriftsgemäß die Ordnung des Lebens gewährleisten sollen.
Die Säulen allumfassender staatlicher Reglementierung sind derart fest ins Bewusstsein eingebrannt und wie zu einer Art natürlicher Selbstverständlichkeit herangereift, dass die Frage erlaubt sein muss, ob Menschen die Vorstellung über selbstorganisierende Prozesse in der Gesellschaft verloren haben. So beklagt ein junger Familienvater heute, dass er sich gern ein zweites Kind wünschte, aber der Staat für Familien zu wenig tue. Urgroßeltern hatten keine Vorstellung von Kindergeld oder Kinderbetreuungseinrichtungen. Man dürfte annehmen, dass die zahlreichen positiven Errungenschaften der modernen Gesellschaft offenbar ein Anspruchsdenken erzeugen, wonach persönliches Handeln ausschließlich von staatlichen Vorgaben abhängig gemacht würde. Ohne das staatliche Fördermittelinstrumentarium fangen viele Gründer gar nicht erst an darüber nachzudenken, ob sie das Risiko einer Selbstständigkeit annehmen wollten. Jede noch so kleine Minderheit fordert in Teilbereichen Vorrang- oder besondere Gleichstellungsrechte. Fraglich ist heute vielmehr, ob es überhaupt noch eine Mehrheit von was auch immer gibt. Bauvorschriften schreiben nicht nur Statiken, Höhen etc. vor, sondern regeln ebenso ästhetische Ausgestaltung oder Denkmal- und Naturschutz.
Es mag auch keineswegs verwunderlich erscheinen, dass sich Menschen, die in Abhängigkeit der Hartz-IV-Gesetzgebung leben müssen, diktatorisch gesteuert fühlen. Wo die Freiheit darauf reduziert ist, ab und an eine politische Farbe wählen zu dürfen, wuchert logischerweise einfallsreicher Sozialmissbrauch. Die Erfahrungen aus Gleichschaltungstendenzen in der DDR-Zeit sollten diesbezüglich eigentlich historische Mahnung sein. Doch der Ruf nach noch mehr Regelbedarf verhallt deshalb nicht.
Manche Nachbarn streiten unter gegensätzlichen Maßstäben über die Höhe ihres Gartenzaunes oder wegen anderer persönlicher Banalitäten. Am Ende muss der Staat in der Person eines Richters eingreifen und für die Streithähne eine Einigung erzwingen. Auf diese Weise setzt Rechtsprechung neue normative Bewertungen. Die Nachbarn seien hier nur als Metapher für jede Form rechtlicher Auseinandersetzung angeführt. Die Vielschichtigkeit juristischer Auseinandersetzungen ist unüberschaubar geworden.
Indes stöhnen kommunale Verwaltungen unter übertragenen staatlichen Auflagenlasten. Selbst eine Glühlampe lässt sich heute nur noch nach europäischer Verordnung anschaffen. Dass Bürger ein mulmiges Gefühl umtreibt, wenn sie an den Druck aus verwaltungstechnischen Vorgaben denken, ist allzu verständlich. Allerdings wird selten der Zusammenhang zwischen Regeldichte und eigenen Forderungen hergestellt. Immer gibt es irgendwo jemanden oder mehrere, die in Richtung Staat wettern, dass er in diesem oder jenen Bereich handeln müsse. In höchster Handlungsverantwortung wird dabei die Politik gesehen. Es erscheint andererseits ebenfalls einleuchtend, dass sich Politiker unter öffentlichen Forderungen aus der Bürgerschaft getrieben fühlen. Die Wechselwirkung zwischen staatlichen Institutionen und Bürgeranforderungen ist zu einem offenbar unauflöslichen Geflecht schwieriger Beziehungen mutiert. Da jedoch gesellschaftlich jede mögliche Verantwortung in den staatlichen Ebenen verortet werden, könnte man annehmen, dass bürgerliches Engagement darunter schrumpft.
Allerdings ist der Erstarrungsfortschritt des Staates eben nicht nur ein einseitiges Ergebnis, dass sich von denen da Oben herleiten ließe, sondern genauso gut ein Resultat herausgebildeter selbstverständlicher Ansprüche. Schulen können Elternerwartungen selten gerecht werden. Klassen sind heute so klein wie nie zuvor in der deutschen Geschichte, aber Pädagogen nehmen im Auge von Eltern allzu wenig Rücksicht auf die individuellen Anforderungen ihres Nachwuchses.
Wer heute Verboten für Kleidungsvorschriften für Muslime fordert, muss sich morgen nicht wundern, wenn noch mehr behördliches Handeln entsteht. Selbst das humane Ansinnen nach Weltoffenheit wird am Ende im Deutschen Ordnungsstaat nicht ohne Regelbedarf einhergehen. Die entstandene Menge und Konstruktion aller staatlichen Institutionen baut nicht nur auf ein staatstheoretisches Verständnis irgendeiner Politelite, sondern ist vielmehr Ausdruck der individualisierten Wünsche ihrer eigenen Bürger. Die Gewalt des Staates realisiert sich in seinen Verwaltungen. Je mehr Regeldichte und Vorschriften, umso häufiger wird man als Bürger mit dem Staat in Berührung kommen. Wer mehr Staat sät, wird mehr Gewalt ernten. Dass dann allgemeine Gefühle über staatliche Enge, Reglementierung und Ohnmacht anwachsen, erklärt sich von selbst. Deshalb erscheint uns der Überbau sinnbildlich wie ein ewig böser Staat.
Die eigentliche Tragik dieser Genese ist der schleichende Verlust von sich selbstorganisierenden Prozessen in der Gesellschaft. Es existiert wohl kein Lebensbereich mehr, in dem nicht nach staatlichen Beihilfen gerufen wird. Die Flut der Ansprüche ist längst über die Ufer getreten. Politik und Verwaltungen reagieren einerseits mit Annahme solcher Wünsche und andererseits mit Rückzug aus traditioneller Verantwortung. Dort, wo Einspruchsrechte nicht vorhanden oder rechtlich unterschwellig waren und sind, zieht sich der Staat zurück. Privatisierungen in Infrastrukturbereichen sind eine Folge davon. Nicht nur Bürger stecken in einer enger werdenden staatlichen Zwangsjacke, der Staat selbst befindet sich im Wunsch-Würgegriff seiner Individuen. Die aktuelle Frage muss lauten: Was fordern Bürger von sich selbst, bevor sie immer mehr vom Staat fordern? Thomas Wischnewski

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