In der Wahrnehmungsfalle

Jean Baudrillard, ein französischer Philosoph und Soziologe, hat bereits vor zwölf Jahren die Frage gestellt, warum im Zeitalter der Digitalisierung die Werte nicht bereits verschwunden seien. Die Kunst, so seine Antwort, sei sich ihres Verschwindens nicht bewusst. Gleichwohl hinterließen die Dinge Spuren, ähnlich den antiken Göttern, die sich im frühen Christentum als Dämonen wiederfanden.

Auswirkungen bestimmter Kurznachrichten via Twitter von heute erinnern vordergründig an die Wahrsagungen einer berauschten Pythia im historischen Delphi. Letztere wurde vor ihrer Verbreitung durch Priester gedeutet: eine mystisch verbrämte Kultur- und Gesellschaftspolitik. Diese Deutungshoheit unterliegt in unserer Zeit jedoch einer anderen Sendungs- und Wahrnehmungssystematik.

Das TIME MAGAZIN beleuchtete die rasante Verbreitung von YouTube, dem wohl weltweit größten Online-Kino. Im Unterschied zum Kino konsumieren die Nutzer dieser Website kostenlos sechs Milliarden Stunden Filmmaterial pro Monat. In einem Monat entsteht auf YouTube mehr Filmstoff, als die drei bedeutenden Fernsehsender der USA in den zurückliegenden sechzig Jahren produziert haben. In seinem klugen Essay „Neubeginn oder Übernahme?“ spricht Michael Schindhelm (Theaterintendant, Kulturberater, Autor, Filmemacher) deshalb auch von einem Publikum, das sich mittlerweile lieber selbst unterhält. Diese „Kultur für alle von allen“ ist keine von professionellen Institutionen geprägte Kultur. Diese Kultur, so Schindhelm, erfülle ihre öffentlichen Aufträge und Endzwecke nicht mehr. Ihre Institutionen, Macher und Inhalte seien längst dem Terror von Globalisierung und Digitalisierung erlegen. Ein unendlicher diffuser Raum sei entstanden, in dem Konsumenten und Produzenten zwischen Online und Offline pendelten, alle erdenklichen Stile, Inhalte und Geografien verwoben und transformiert würden. Schindhelm bezeichnet dieses als „Kulturplasma“. Der einstige Priester aus Delphi hätte hier keinen Platz.

Nun ließe sich eine derartige „Kultur von allen für alle“ andererseits durchaus als ein umfassender kultureller Partizipations- und Demokratisierungsprozess verstehen. Bisherige normativ-kulturelle Ausprägungsprozesse unterlagen jedoch anderen zeitlichen Amplituden als das Stakkato etwa von Twitternachrichten oder Einspielungen bei YouTube. Ablesbar sind diese kulturprägenden Epochen beispielhaft in der Architektur, von der Romanik bis zum Bauhaus. Eine normensetzende Kultur ist das Ergebnis eines institutionalisierten Diskurses. Künstlich erzeugte Echowellen im Netz begründen keine Kultur. Nachrichten, die uns täglich im Börsentickertakt erreichen, binden zunehmend unser Wahrnehmungspotential. Hierdurch wird unser Blick verstellt für eher langfristige Entwicklungen, die unser Denken und Handeln normativ-kulturell prägen. Die voyeuristische Sucht nach dem Aktuellen macht atemlos.

Wir bewegen uns hierbei in Zeiten grundlegender Veränderungen. Doch welch ein gesellschaftlicher Diskurs führt uns in eine neue Epoche? Geben wir uns hierfür die notwendige Zeit, den Raum für ein Zuhören, Verstehen und Argumentieren? Sind unsere Sinne nicht schon verstopft durch die Fülle an täglichen Wahrnehmungen? Diese Reiz-Reaktions-Mechanismen entladen sich in schnellen, auch in oberflächlich-populistischen Positionierungen. Der erzeugte Effekt ist kaum Ausdruck einer abgewogenen Meinungsbildung. Die Kehrseite volatiler Äußerungen ist der Wunsch nach Orientierung. Die Pseudostärke der schnellen Antwort verliert sich in einem Kulturplasma. Menschen und Institutionen, die uns Werte und Orientierung vermitteln, verschwimmen eben nicht im kurzatmigen Effektrausch.

Nun läuft in Deutschland der Kulturbetrieb offenkundig auf Hochtouren. Es hat nicht den Anschein, dass Kultur und Kulturpolitik bei der Hektik globaler und digitaler Prozesse an Bedeutung verlören. Baudrillard würde darauf antworten, dass sie sich dessen nur nicht bewusst seien. „Und der Kulturpolitiker bliebe der Mann ohne weitere Verwendung. Interessanter wäre jedoch, sich dessen dämonisches Nachleben im Plasma vorzustellen. Mehr denn je Außenseiter, ließe er die politische Konvention hinter sich, um herauszufinden, wie eine Interpretation des Wahren, Schönen, Guten im Kulturplasma aussehen könnte. Dieser Kulturpolitiker hätte bestimmt keinen eindeutigen gesellschaftlichen Auftrag mehr.“ (Michael Schindhelm) Nicht nur für den Kulturpolitiker bleibt die Frage, ob wir der Wahrnehmungsfalle, dem nur effektheischenden Augenblick entkommen und uns Zeit und Raum geben für einen gesellschaftlichen Diskurs, der Normen und Werte im Gepäck führt, damit Orientierung gibt in epochalen Umbruchzeiten. Die Antwort hierauf ist offen. Dr. Rüdiger Koch

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