Gedanken- & Spaziergänge im Park: Der Osten ist rot

Der Osten ist rot“ – so lautet die erste Zeile eines chinesischen Liedes, das der Bauer Li You Yuan (1903-1955) einst geschrieben hat.

„Der Osten ist rot, die Sonne geht auf,
China hat Mao Zedong hervorgebracht.
Er plant Glück für das Volk,
Hurra, er ist der große Erlöser des Volkes!“

Während der sogenannten Kulturrevolution 1966-1968 wurde es gewissermaßen zur Nationalhymne, weil der Text der eigentlichen Hymne – „Der Marsch der Freiwilligen“ – zu dieser Zeit nicht gesungen werden durfte, da deren Verfasser Tian Han 1966 als „Rechtsabweichler“ von den Revolutionsgarden verhaftet wurde und 1968 in der Haft starb. Erst nach seiner Rehabilitierung 1979 wurde sein Text wieder zugelassen. Aber viel besser klingt das auch nicht:

„Steht auf! Alle, die keine Sklaven mehr sein möchten!
Lasst uns aus unserem Fleisch und Blut die neue Mauer bauen.“


Eigentlich hätte dieser Text doch vorzüglich zur Kulturrevolution gepasst. Das Rot des chinesischen Ostens scheint wohl eher ein Blutrot zu sein.

Die Volksrepublik China feierte am 1. Oktober ihr 70-jähriges Bestehen. Eine sehr wechselvolle und durch viele Umbrüche gezeichnete Geschichte. War der Sieg der Kommunisten in China 1949 nach langer japanischer Besatzung und Bürgerkrieg wirklich ein Erfolg? Man kann da sehr geteilter Meinung sein und vermutlich sind gegensätzliche Betrachtungsweisen durchaus berechtigt. Wie alle nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen sogenannten „Volksdemokratien“ war China unter seinem Führer Mao vom Stalinismus geprägt. Erst nach den Enthüllungen Chruschtschows über die Verbrechen Stalins trennte sich der Weg Chinas von der Sowjetunion, da es diesen aus chinesischer Sicht poststalinistischen „Revisionismus“ nicht mitmachen wollte. Davor prägten große Kampagnen die chinesische Innenpolitik, die zu einem „großen Sprung nach vorn“ führen sollten, in Wirklichkeit aber kontraproduktiv waren und eher zu Armut und Toten führten. Während des „Großen Sprunges“ (1953-61) erfolgte die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft und die Zwangsabgaben der Bauern wurden stark erhöht. Zu dieser Zeit sollte auch jede Kommune mit primitiven Schmelzöfen aus eisenhaltigen Erden Eisen schmelzen gemäß dem stalinschen Dogma, dass der Schwerindustrie der Vorrang gehöre. Zustande kam dabei nur minderwertiges Metall, das kaum zu einer größeren industriellen Produktion taugte. Aber die Bauern wurden durch die Planauflagen von ihrer eigentlichen landwirtschaftlichen Tätigkeit abgehalten. Die Folge war ein starkes Absinken landwirtschaftlichen Erträge in den Jahren 1959-61 und was noch schlimmer war: es kam zu einer Hungersnot bei der nach unterschiedlichen Schätzungen etwa 15 - 45 Millionen Menschen starben. Das war wahrscheinlich die bisher größte Hungerkatastrophe der Menschheit. Mao hatte dabei ein großartiges Vorbild in Stalin, dessen radikales Vorgehen in der Ukraine 1932-33 zu einer ähnlichen Hungersnot führte, die als „Holodomor“ (das ist ukrainisch und bedeutet auf Deutsch: Tötung durch Hunger) mit ca. 4 Millionen Toten in die Geschichte einging.

Natürlich war an der Hungersnot nicht die Idiotie des Politbüros unter Maos Führung schuld, sondern es wurde ein neuer Feind ausgemacht: „die vier Plagen“, die nun intensiv bekämpft werden mussten. Die vier Plagen waren Ratten, Fliegen, Spatzen und Stechmücken. Dieser Kampf nahm skurrile Formen an. Der emigrierte Sinologe Kuan Yu-Chien schreibt in seinem Buch „Mein Leben unter zwei Himmeln.“ (Fischer, Frankfurt/Main 2008): „Ich erinnerte mich an einen Tag, an dem die ganze Bevölkerung nichts anderes machte, als mit Gongs und Töpfen und allen möglichen anderen zum Krachmachen geeigneten Gegenständen auf den Straßen und in den Höfen herumzulaufen, um die Spatzen aufzuscheuchen. Den ganzen Tag war so laut gescheppert worden, dass die Vögel sich nirgends niederlassen konnten und schließlich tot vom Himmel fielen. An jenem Tag wurden Millionen von Vögeln getötet, und wir waren alle ganz stolz darauf gewesen. War es nicht fantastisch, wie es Mao Zedong gelang, die gesamte Bevölkerung für ein gemeinsames Ziel zu mobilisieren? Erst später erfuhren wir, dass die Vögel, die in der Stadt lebten, immer in der Stadt blieben und deshalb gar keinen Schaden auf den Feldern anrichten konnten. Im Gegenteil: Da nicht nur die körnerfressenden Spatzen von der Aktion betroffen waren, hatten wir anschließend eine Insektenplage erlebt.“

Als sich innerparteiliche Kritik regte, wurde von oben 1966 die Kulturrevolution inszeniert, während der der Personenkult um Mao seinen Höhepunkt erreichte. „Rote Garden“ bildeten sich überall und übten ideologischen Terror aus. Schulen wurden geschlossen, Universitäten gestürmt, Kunst zerstört, missliebige Parteifunktionäre, Lehrer, Professoren, aber auch Nachbarn gequält und getötet. In einer Kampagne gegen die „geistige Verschmutzung“ sollte alles Individuelle vernichtet werden. Man schätzt etwa 400.000 Tote in dieser Zeit, aber Millionen von Menschen wurden verhaftet, misshandelt oder in Arbeitslager gesteckt. 1968 mussten 15 Millionen junge Städter  durch die Kampagne „Raus auf‘s Land“ in die Dörfer! Nebenbei: ich wundere mich bis heute darüber, wie die Achtundsechziger in Westdeutschland mit der Mao-Bibel in der Hand sich für diese unmenschliche Kulturrevolution begeistern konnten. Welch eine Verwirrung in den Köpfen! Ein letzter Versuch etwas zu verändern wurde 1989 auf dem Platz des himmlischen Friedens, wie er ironischerweise heißt, blutig niedergeschlagen.

Und heute ein ganz anderes Bild. Man glaubt China nicht wiederzuerkennen. Die Führung und ihre Wirtschaftsfunktionäre einschließlich einer gewissen Ober- und Mittelschicht scheinen eine besondere Art von „sozialistischem Kapitalismus“ zu praktizieren. China beginnt die Welt aufzukaufen. Ganze Betriebe der Hochtechnologie in Europa und der Welt, aber auch Weingüter in Südfrankreich sind chinesisches Eigentum. Auch hierzulande: die meisten Mercedesfilialen der neuen Bundesländer heißen jetzt Stern-Auto und gehören einem chinesischen Konzern (LSH). China investierte in großem Maßstab in der Welt, vor allen aber in Afrika. Chinesen projektieren und bauen dort zum großen Teil mit eigenem Personal große Bauten, Betriebe, Eisenbahnen und Straßen. Die betreffenden Länder haben dann Schulden und sind abhängig. So entsteht ein finanzieller Kolonialismus. Aber für die Wirtschaft dort ist es von Vorteil, denn es entstehen sofort die vorgenannten Projekte. Das ist wesentlich wirkungsvoller als die finanzielle Entwicklungshilfe, wie sie auch von uns betrieben wird. Da versacken die Gelder zum Teil bei den regierenden Familienclans. Sachleistungen zu geben ist effektiver als Geld zu spendieren.

Interessant ist die Zahl der Milliardäre dieser Welt. 2017 waren es insgesamt 1810, davon hat China 251 Milliardäre – wohlgemerkt ohne die 63 Milliardäre der ehemaligen Kronkolonie Hongkong! Sind das die reichen Chinesen – also eigentlich Parteikarrieristen oder lediglich Strohmänner der Partei? Wie kann es in einem angeblich kommunistischen Land überhaupt Milliardäre geben? Schade, dass man Karl Marx nicht mehr danach fragen kann. Ob er sich den Bart raufen würde? Dazu kommt eine fast perfekte Überwachung des Einzelnen mittels Hochtechnologie – nahezu wie es in dem Roman „1984“  von Orwell als Zukunft beschrieben wurde. In China ist es Realität – allerdings im Gegensatz zum Roman als Hochglanzversion. Chinesische Touristen bevölkern die Sehenswürdigkeiten Europas und der Welt. Diese Reisen sind sicher nicht billig. Das wirft die Frage auf: wer sind diese Touristen und wie geht es eigentlich der Landbevölkerung, mehr als einem Drittel der Chinesen? Laut Statistik verdient ein Bauer durchschnittlich 11.422 Yuan pro Jahr, das entspricht 1480 € bzw. 124 € pro Monat. Davon lassen sich wohl kaum Weltreisen oder ein erschwinglicher Luxus bezahlen. Welche Schicht ist da also in der Welt unterwegs? Bei allem Glanz nach außen scheint das kommunistische China größere Ungleichheiten zu haben als viele der kapitalistischen Staaten. Wo bleibt die Prophetie des Marxismus von der angeblich klassenlosen Gesellschaft? Paul F. Gaudi

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