Euphorie hält nicht ewig

Am 21. Juli startet die dritte Fußball-Bundesliga in die neue Saison. Für seinen FCM erhofft sich Fan Matthias Nüse nach zwei vierten Plätzen diesmal den Aufstieg.
Immer dann, wenn eine neue Fußballsaison unmittelbar bevorsteht, beginnt das ewig junge Rätselraten. Was traut man dem eigenen Team zu? Wie werden die Zugänge einschlagen? Was kann die Konkurrenz? Was darf generell von der Spielzeit erwartet werden? Eine schon gewohnte Spielwiese für Manager, Präsidenten und Trainer auf der einen Seite, und den Journalisten auf der anderen.
Während die einen in der Regel den wissenden Realisten herauskehren und gern tiefstapeln („Favoriten? Natürlich die anderen!“), versuchen die Medien den Betroffenen mit allen möglichen (tauglich wie untauglichen) Mitteln ein optimistisches Versprechen (Meisterschaft oder Aufstieg) zu entlocken.  Auf dass man die Chefs wiederum später, dies zuzugeben gehört zur Ehrlichkeit des journalistischen Gewerbes, umso besser festnageln kann.
Nur eine Spezies kommt im Vorfeld recht selten zu Wort: die Anhänger und Mitfieberer, umgangssprachlich auch Fans genannt. Also haben wir uns in der Redaktion gesagt: Lassen wir doch einmal von einem von ihnen Wünsche, Erwartungen und Prognosen äußern. Fragen wir nach seiner Einschätzung des Magdeburger Fußballs im Sommer 2017.
Als Matthias Nüse seinen Mitgliedsausweis über den Tisch reicht, steht da die Nummer 0457. Seit dem 1. Januar 1996 ist er, fußballbegeistert und sachverständig durch und durch, ein Blau-Weißer. Zwei Jahre zuvor war er beruflich an die Elbe, in der Kicker-Sprache würde es jetzt heißen: gewechselt. Es versteht sich fast von selbst, dass der Mann vom Niederrhein neben dem FCM vor allem für die Gladbacher Fohlen schwärmt („Das erste Spiel, das ich live gesehen habe, war das deutsche Pokalfinale, als Netzer sich selbst eingewechselt hat.“).
In Magdeburg, erinnert sich Nüse, „habe ich mich sofort für den hiesigen Fußball interessiert – egal, welche Liga die damals spielten“. Es dauerte nicht lange, bis der Neu-Magdeburger den Aufnahmeantrag stellte: „Wenn FCM, dann komplett.“  Seither hat der heutige Geschäftsführer des Bau-Unternehmens Schrader-Haus selten ein Heimspiel verpasst. Er weiß also, wovon er redet.
Auf die Eingangsfrage, wie er denn den FCM augenblicklich sieht, kann der 55-Jährige ein zufriedenes Schmunzeln nicht verbergen: „Ich bin hocherfreut, dass es so ist, wie es jetzt ist.“ Nicht gestrichen sind in seinem Gedächtnis jene Jahre, als der Klub im Amateurbereich über die Dörfer tingelte oder eine Insolvenz zu Beginn des Jahrhunderts gar alles in Frage stellte. „Wir haben heute eine tolle Ausgangsposition – sportlich wie wirtschaftlich. Als Aufsteiger zweimal nacheinander Vierter, das verdient Hochachtung.“
Bei aller Euphorie und Begeisterung, ein Claqueur ist Nüse nicht. „Wie wohl fast alle Fans wünsche ich mir den Aufstieg in die zweite Liga. Der war aus meiner Sicht schon 2017 möglich, wenn wir unsere Chancen besser genutzt, zu Hause nicht unnötige Punkte abgegeben hätten. Zumal  die Leistungsdifferenz zwischen der Spitze in Liga drei und den unteren Teams der zweiten Liga gar nicht so groß ist. Dieser FCM spielt jedenfalls keinen Rumpelfußball mehr wie vielleicht noch vor fünf Jahren.“
Etwas hat ihn im vergangenen Jahr gestört, und er betont es, weil er die Tendenz nicht überwunden sieht. „Mir fehlte ein Spielgestalter. Einer, wie einst Gerster oder vielleicht Fuchs. Darunter hat unser Offensivspiel gelitten. An dieser Stellschraube wurde auch diesmal aus meiner Sicht zu wenig gedreht. Neuzugang Ludwig vermag ich nicht einzuschätzen, in den vergangenen Jahren ist er mir zumindest nicht aufgefallen. Ich bin zudem überzeugt, den FCM bringt langfristig nur offensiver Fußball weiter. So wie es Löw jetzt mutig beim Confed-Cup gezeigt hat, obwohl er auf wichtige Leute verzichtete.“
Ein wenig ratlos blickt Nüse, wenn er auf die Zugänge angesprochen wird. „Das sind alles junge Leute, die die wenigsten näher kennen. Aber das ist in Ordnung. Da muss man den Verantwortlichen vertrauen. Mir fehlen allerdings, da wiederhole ich mich, eine überzeugende Alternative in der Offensive und insgesamt eine stringentere Personalpolitik. Zumal wir durch die Abgänge von Kath und Farrona Pulido vorn an Substanz verloren haben. Das kann ein Beck auf Dauer nicht allein abfangen.“
Gewissenfrage: Wozu reicht es also für den FCM? Nüse: „Natürlich erhoffen wir uns den Aufstieg. Es gab ja mal einen Drei-Jahres-Plan. Jetzt sind wir im dritten Jahr … (lacht) Also von Anfang an oben dran bleiben, so zwischen Platz eins bis fünf, und dann zuschlagen, sobald die Konkurrenz Schwäche zeigt. Auf jeden Fall sollten wir keinen Zweifel daran lassen, dass wir hoch wollen.“ Und noch etwas liegt ihm am Herzen: „Ich hoffe nicht, dass es wieder so einen ellenlangen Poker um den Trainervertrag gibt; zumal Härtel diesmal nur einen Ein-Jahres-Vertrag hat. Ob man es wahrhaben will oder nicht – das führt zu Unsicherheit. So etwas sollte sich der Verein nicht gefallen lassen. Gerade in jener Phase im Frühjahr haben wir wichtige Zähler eingebüßt. Ich hoffe also, dass sich dies in diesem Winter nicht wiederholt.“
Hellauf begeistert ist unser Gesprächspartner, wenn die Rede auf die Stimmung in Magdeburg kommt. „Das ist locker zweite Liga, wenn nicht noch mehr. Genial. Unbegreiflich, was in den zwei Jahren hier los war. Und es sieht so aus, als würde es so weitergehen. Allein wenn ich die verkauften 9000 Dauerkarten sehe und einen Zuschauerschnitt in den letzten beiden Jahren, von dem viele Zweitligis-ten nur träumen können.“ Deshalb begrüße er auch die Entscheidung der Stadt, Geld in die Hand zu nehmen, um nicht nur die Baumängel am Stadion zu beseitigen, sondern sich für die 30.000-Zuschauer-Variante entschieden zu haben. Das ist, wenn wir in Richtung zweite Liga schauen, gut investiertes Geld.“
Doch Nüse mahnt ebenso: „Auf Dauer kann man den Fans nicht verkaufen, wir spielten gegen den Abstieg, die berühmten 45 Punkte müssten erstmal her, dann sehe man irgendwie schon weiter. Irgendwann nutzt sich das ab, ist es dem Fan nicht mehr erklärbar. Eine Euphorie wie jetzt, so schön sie ist, sie hält nicht ewig.“
Mit gespaltenem Herzen blickt der gelernte Kaufmann auf die wirtschaftliche Szene in der dritten Liga. „Es ist beeindruckend, wie sich der FCM innerhalb kürzester Zeit von einer grauen Maus zu einem finanziell gesunden Vorzeigeklub entwickelt hat. Das alles aus eigener Kraft, ohne die großen Sponsoren wie sie in Baden-Württemberg oder NRW zu finden sind. Eine Topleistung von Aufsichtsrat, Präsidium und Management.“ Andererseits registriert er eine chronische Unterfinanzierung bei vielen Vereinen. „Bei den TV-Geldern müsste radikal umverteilt werden. Die 750.000 Euro, die, glaube ich, ein Drittligist bekommt, sind einfach schäbig. Das ist ein Armutszeugnis.“ Aber die Illusion, dass sich daran so schnell etwas ändert, hegt er nicht: „Umso wichtiger wäre es, bald an die Gelder der zweiten Liga, die etwa das Zehnfache der jetzigen Summe ausmachen, heranzukommen. Dazu müsste man eigentlich nur aufsteigen …“ Rudi Bartlitz

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