Flieg, Lea, flieg!

Weitsprung-Talent Lea-Jasmin Riecke mit ihrem Vater und Trainer Hans-Ulrich Riecke. Foto: Peter Gercke

Lea-Jasmin Riecke aus Magdeburg wurde sensationell Juniorenweltmeisterin im Weitsprung. Die 18-jährige hat ein heute ungewöhnliches Hobby: Sie schneidert.

Sage und schreibe 26 Jahre mussten ins Land gehen, bis sich Magdeburg wieder mit einem Junioren-Weltmeistertitel in der Leichtathletik, der olympischen Sportart Nummer eins, schmücken kann. Dreispringerin Anja Vokuhl war 1992 in Seoul die Letzte, die Gold von diesem Top-Event mit an die Elbe gebracht hatte. Bis Lea-Jasmin Riecke kam. Der erst 18-Jährigen vom Mitteldeutschen Sportklub (MSC) gelang Mitte Juli im finnischen Tampere die Sensation schlechthin: Als Außenseiterin holte sie Gold. Das einzige in einer Einzeldisziplin fürs deutsche Team; hinzu kam noch ein Titel in der Sprintstaffel der Mädchen.

„Es dauerte schon ein, zwei Tage, bis ich einigermaßen realisierte, was da passiert ist“, meinte sie am Morgen nach der Rückkehr im Gespräch mit Magdeburg Kompakt. Und während sie in der Laufhalle Glückwünsche von allen Seiten entgegennahm („Wenn ich einen Hut hätte, würde ich ihn ganz tief ziehen und mich davor verbeugen, was dieses Mädchen geleistet hat“, meinte ein sichtlich angefasster Hallenwart), schien es so, als wundere sie sich immer noch über ihr Meisterstück von Tampere. Der Leichtathletik-Weltverband IAAF hatte ihren Erfolg auf seiner Homepage als „die vielleicht größte Überraschung der Titelkämpfe“ bezeichnet. Zumal es der Schülerin des Sportgymnasiums gelungen war, mit ihrer Siegweite von 6,51 Metern die als haushohe Favoritin ins Rennen gegangene US-Amerikanerin Tara Davis (6,36) klar in die Schranken zu weisen. Bei der Bestweite rangierte Davis, vor drei Jahren schon U-18-Weltmeisterin, vor den Titelkämpfen fast 40 Zentimeter vor der Magdeburgerin.

Dabei begann es in Tampere für Riecke alles andere denn verheißungsvoll. In der Qualifikation drohte fast das Aus. Nach ihrem dritten, verunglückten Sprung vergrub sie das Gesicht in den Händen. Es blieben 6,01 Meter – eine Weite, deutlich unter ihrer Bestmarke von 6,38 Metern. „Ich hätte nie gedacht, dass das fürs Finale reicht“, meinte sie. Tat es aber: Als Zwölfte der Qualifikation rutschte sie gerade noch so ins Finale. „Ich bin super glücklich, durchgekommen zu sein.  Morgen kann ich dann hoffentlich einen raushauen.“

Am Finaltag goss es, was der finnische Himmel hergab. Riecke-Wetter. „Nö“, meint sie lapidar auf die Frage, ob sie die widrigen Umstände nicht gestört hätten. „Es macht mir wenig aus, wie die Bedingungen sind, egal ob Wasser wie aus Kannen oder Gegenwind. Damit müssen alle klarkommen.“ Bundestrainer Dietmar Chounard applaudierte: „Wir haben Lea schon einiges zugetraut. Bemerkenswert aber, wie sie es dann schaffte, ihre Chance im entscheidenden Moment zu nutzen.“

Als sie im zweiten Versuch 6,51 Meter vorlegte, biss sich die Konkurrenz die Zähne an dieser Weite aus. „Ich konnte alle Versuche auf der großen Videowand verfolgen und wollte es einfach nicht glauben, was ich da sah. Keine sprang weiter.“ Gold. Der letzte und bisher einzige deutsche Titel in dieser Disziplin liegt 32 Jahre zurück: 1986 wurde die Potsdamerin Patricia Bille im Trikot der ehemaligen DDR U20-Weltmeisterin. „Was hier passiert ist, das hätte ich nie gedacht“, stammelte eine von den eigenen Gefühlen überwältigte Riecke den Reportern nach ihrem Wettkampf in die Blöcke. „Ich hatte keinen Druck. Ich habe mir gesagt, ich habe hier heute Spaß, egal, wie es endet.“ Sicherheit gab ihr auch, dass ihre Eltern im Stadion live dabei waren.

Und noch etwas ist des Bemerkens wert. Die neue Weltmeisterin kommt nicht von einem der Leichtathletik-Großklubs. Ganz im Gegenteil. Gerade einmal acht Jungen und Mädchen widmen sich beim Mitteldeutschen SC, eigentlich für seine Bob-Anschieber bekannt, dem Laufen, Werfen oder Springen. Seit 2013 trainiert Lea hier unter Anleitung ihres Vaters Hans-Urlich Riecke, einem ehemaligen SCM-Zehnkämpfer. „2010 wollte man mich beim SCM nicht mehr haben“, erzählt Riecke, der es einst auf bemerkenswerte 8.174 Punkte gebracht hatte. „Da ich aber weiter der Leichtathletik verbunden sein wollte, bin ich dann zum damals neu gegründeten MSC gegangen und habe dort unter anderem meine Tochter betreut.“

Die neue Weltmeisterin  ist eigentlich von Haus aus Mehrkämpferin. „Wegen einer Schulter-Geschichte mussten wir in diesem Jahr da allerdings kürzer treten und haben deshalb besonderen Wert auf den Weitsprung gelegt“, erläutert der Vater.  Siehe da, es hat funktioniert.  Und wie! „Wir gehen mit Lea einen für die traditionelle Leichtathletik vielleicht ungewöhnlichen Weg “, verrät der 54-Jährige, der am Magdeburger Sportgymnasium unterrichtet. Heißt: Kein ausgiebiges  Krafttraining, weg vom ewigen Gewichtstemmen. Dafür wurde ein Turn- und Athletikcoach („Für die Geschmeidigkeit“) engagiert. Für die Entwicklung der 1,83 großen und nur 64 Kilogramm schweren Athletin offenbar genau die richtige Richtung. „Lea ist ein Rohdiamant. Ihre Grenzen im Weitsprung sind heute noch gar nicht abzusehen.“ Zumal offenbar noch das Weitsprung-Gen des Vaters hinzukommt, der es innerhalb des  Zehnkampfes auf hervorragende 7,82 Meter  gebracht hatte („Ein ungültiger Versuch lag einmal sogar über der Acht-Meter-Marke“).

Mit dem Tampere-Gold („Die Medaille bekommt gegenüber meinem Bett einen Platz neben all den anderen Plaketten“) ist für Lea „der absolute Saisonhöhepunkt“ absolviert. „Besser geht es nicht mehr, oder? Für meine weitere Laufbahn sind damit natürlich neue Perspektiven gesetzt.  Ich werde bestimmt auch im nächsten Jahr noch einen Siebenkampf machen, das  Hauptaugenmerk allerdings jetzt wohl auf den Weitsprung legen.“

Nach den Sommerferien wird der Spross einer Sportlerfamilie in die 13. Klasse des Gymnasiums in der Friedrich-Ebert-Straße wechseln. „Ja, Sport spielt bei uns zu Hause eine große Rolle. Hauptsächlich Leichtathletik, die hat auch meine Mutter betrieben, und Handball (Ihr Onkel Helmut Kurrat ist Ex-Nationalspieler und heute Leiter des Olympiastützpunktes Sachsen-Anhalt, d. Red.). Aber es gibt in unserer Familie auch Fußballer, Tänzer…“  Im nächsten Jahr steht das Abitur an. Lieblingsfächer, sagt sie, habe sie nicht, um dann diplomatisch in Richtung ihrer Lehrer hinzufügen: „Mir macht eigentlich alles Spaß“. Ihre eigenen Leistungen beschreibt sie dabei bescheiden als „na ja, mittelmäßig“.

Und über ihr Hobby möchte sie allerdings am liebsten gar nicht reden. Vielleicht erscheint es ihr in dieser total technisierten Welt nicht cool genug? Da platzt der Vater dazwischen: „Sag doch, was du gern machst.“ Sie muss sich sichtlich erst einen innerlichen Ruck geben, ehe sie verrät: „Ja, ich nähe gern.“  Schon als Kind war die mütterliche Nähmaschine nicht sicher vor ihr. „Wir haben im Verwandten- und Bekanntenkreis so viele Babys und kleine Kinder. Für die schneidere ich das eine oder andere Stück.“  Doch dabei ist es nicht geblieben. Inzwischen trägt Lea auch Teile ihrer Kreation selbst zur Schau. An entsprechenden Laufstegen dafür sollte es der neuen Weltmeisterin künftig nicht mangeln … Rudi Bartlitz

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