Je eher, desto besser

Im Final-Four-Finale um den DHB-Pokal wurde zwar gegen den THW Kiel verloren, dennoch weist der Weg der SCM-Handballer unübersehbar nach oben.

Seit Bennet Wiegert im Dezember 2015 das Amt des Cheftrainers beim SC Magdeburg übernahm, schaffte das Team zwar stets den Sprung ins Final Four des DHB-Pokals nach Hamburg, aber nur 2016 gelang es, die Trophäe elbaufwärts mitzunehmen. Foto: P. Gercke

Es sind Tage wie diese, nach denen sich der gemeine Sportsfreund so sehr sehnt. Überbordender Jubel, Glückseligkeit, der Pokal, dieses Objekt der Begierde, in den Händen des eigenen Teams. Die fast 2.000 Magdeburger Fans, die am zurückliegenden Wochenende nach Hamburg zum Final-Four-Turnier der Handballer gepilgert waren, hatten dieses Szenario in ihren Träumen bereits x-mal durchgespielt. Doch es kam, wie so oft im Sport, anders. Dabei war eigentlich alles für einen Festtag angerichtet. Der SCM hatte sich in der mit 13.200 Zuschauern an beiden Tagen ausverkauften Hamburg-Arena, dem Wembley des Handballs schlechthin, ins Finale gespielt. Und der Kontrahent dort war kein geringerer als das Nonplusultra der deutschen Ballwerfer, Rekordmeister THW Kiel. Ein Traumfinale also. In dem sich der Serien-Champion aus dem hohen Norden am Ende mit 28:24 (14:13) nicht unverdient durchsetzte.
 
Und dennoch, das darf als ein erstes Fazit der Hamburger Tage gelten, der SC Magdeburg ist mit diesem zweiten Platz im deutschen Pokal 2019 wieder in der absoluten Spitzengruppe des deutschen Handballs angekommen. Ohne Wenn und Aber. Selbst wenn das gesteckte Ziel, in diesem Jahr einen Titel zu holen, knapp verfehlt wurde. Immerhin gelang es dem Team von Cheftrainer Bennet Wiegert in dieser Saison als einziger Mannschaft, dem souveränen Klassenprimus SG Flensburg zwei Niederlagen beizubringen, eine im Pokal und eine im Titelkampf. Gegen die Kieler siegte man sogar zweimal in der Meisterschaft, nur eben im Cup nicht. Im Titelrennen ist allemal Rang drei drin.
 
Mit ihrem herzerfrischenden Tempohandball begeistern die Grün-Roten mittlerweile nicht nur die Zuschauer, eigene wie fremde, sondern ebenso die Fachleute. Er ist ihre stärkste Waffe. „Das schnelle Spiel – das machen die Magdeburger in der gesamten Bundesliga am besten“, zollte Ex-HSV-Trainer Martin Schwalb, heute Sky-Experte, in Hamburg Lob. Das sei der Handball der Zukunft. „Tempo, Tempo, Tempo – damit überrollen sie alles. Das musst du erst einmal schaffen.“ Richtig, dahinter steckt jahrelange akribische Arbeit, im Prinzip seit der Übernahme des Traineramtes durch Wiegert im Dezember 2015. Für die vom SCM demonstrierte Art des Tempohandballs, beruhend auf einer sicheren Deckung und überraschend und rasant vorgetragenen Gegenstößen, mussten natürlich die für ein solches System passenden (und finanzierbaren!) Akteure her. Ein Prozess, der dauert – und noch keineswegs abgeschlossen ist.
 
Es ist eine Crux, dass ausgerechnet beim Pokalfinale in Hamburg der SCM – leider – zu selten zu jenem von jedem Gegner gefürchteten Tempohandball fand, vor allem in der zweiten Hälfte nicht. So lange das nämlich klappte, lief es auch gut für die Sachsen-Anhalter – in der 25. Minute führten sie 13:10. Das Genick brachen der Wiegert-Truppen dann sieben Minuten in der zweiten Halbzeit. Da eilte der THW von 18:15 (38.) schon nahezu uneinholbar auf 24:16 (45.) davon. Die Magdeburger erschienen regelrecht kopflos. Es wurde immer offensichtlicher, dass die Kieler „Zebras“ in jener Phase von einem taktischen Schachzug ihres alten Trainerfuchses Alfred Gislason profitierten, der in der Anfangsformation drei Spieler aus der sogenannten zweiten Reihe aufbot, die im Halbfinale am Vorabend nicht zum Einsatz gekommen waren. Es lief also auf eine Kraftfrage hinaus – und die entschieden die Kieler, die, vor allem wegen ihres wesentlich höher dotierten Kaders, zweifellos über die besser besetzte Bank verfügten.
 
Es wäre nun gewiss töricht, würde der SCM allein wegen dieser Finalniederlage, mag sie noch so bitter sein, sein gesamtes System infrage stellen. „Wir werden weiter unseren Weg gehen, wir sind noch nicht am Ende“, kündigte Wiegert in den Katakomben der Hamburger Arena bereits an. Eines Weges, dessen Fundamente, das mag überraschen, in Magdeburg schon vor mehr als drei  Jahrzehnten gelegt worden waren.  
Es war jene Meister-Sieben, die im April 1981 im Pokal der Landesmeister unter Leitung von Trainer-Legende Klaus Miesner in zwei Spielen (29:18, 23:25) die Jugoslawen aus Ljubljana niederrang und sich die europäische Krone aufgesetzte. Untrennbar mit den Erfolgen dieser Zeit verbunden: Spielmacher Ernst Gerlach, der Halbrechte Günter Dreibrodt, Kreisläufer Ingolf Wiegert, Linksaußen Hartmut Krüger und Torwart Wieland Schmidt. Die Dominanz von Gerlach und Co. war nicht zuletzt eine Systemfrage. Trainer Miesner bereicherte die Lehrbücher um ein Kapitel, das heute zur Pflichtlektüre jedes Handballlehrers zählt.
 
„Wir waren es, die das schnelle Spiel ins Leben riefen", erzählte Schmidt stolz dem Magazin „Der Spiegel“. Dass Miesner, der 1989 einem Herzinfarkt erlag, im Training wieder und wieder Konter üben und mit viel Tempo vortragen ließ, zahlte sich aus. Die neue Taktik, damals eine Revolution im Handballsport, ging dem Team in Fleisch und Blut über. "Man hätte mich damals nachts wecken können, meine Pässe wären trotzdem punktgenau angekommen", so Schmidt, der die Angriffswellen auf des Gegners Tor in Gang setze und seinerzeit als weltbester Keeper galt. „Im Europokal waren wir immer besonders motiviert", so der gebürtige Ottersleber. Denn ein Aus hätte den schönen Touren ins Ausland, etwa ins spanische Granollers, den Riegel vorgeschoben. Während des Trips nach Katalonien „haben wir vier Tage nur gefeiert", so der heute 65-Jährige. Die sportliche Leistung beeinträchtigte die Sause nicht. „Wir wussten: Die hauen wir weg."
 
Die zweite Hoch-Zeit des Magdeburger Handballs war dann von einem etwas anderen Stil geprägt. Trainer Alfred Gislason als „Mastermind“ hatte da zu Beginn des Jahrtausends eine Truppe beisammen, in der es von internationalen Stars nur so wimmelte: Nenad Perunisic, Olafur Stefansson, Gueric Kervadec, Oleg Kuleschow, Stefan Kretzschmar, Joël Abati. Sie bauten ein Abwehrbollwerk auf und zogen ein Feuerwerk an Kombinationshandball ab. Und wenn das einmal tatsächlich nicht fruchtete, waren da immer noch die überragenden individuellen Stärken der Führungsspieler, die auch einmal eine Partie nahezu im Alleingang entscheiden konnten. Es war der SCM, der 2001 als ostdeutsches Team erstmals nach der Wende die Meisterschaft gewann, ein Jahr drauf waren die Grün-Roten sogar die beste Mannschaft  Europas.
 
Als erster Handball-Bundesligist überhaupt triumphierten die Magdeburger in der Champions League gegen den ungarischen Meister Votex Veszprem (30:25). Vor 8.000 (!) Zuschauern in Partystimmung in der ausverkauften Bördelandhalle drehten die Magdeburger als erster nichtspanischer Gewinner der 1994 eingeführten Champions League die 21:23-Niederlage aus dem Hinspiel um. „Die Euphorie in Magdeburg war unbeschreiblich", sagt Weltmeister Henning Fritz, der von 1988 bis 2001 im SCM-Tor stand. Die Zuschauer sorgten in der Arena mit tausenden von Wunderkerzen für eine fast feierliche Atmosphäre. Drei Schornsteinfeger als Glücksbringer liefen vor der Partie mit der ausgebreiteten Vereinsfahne des SC Magdeburg über das Parkett. "Heute ist ein Tag, um Geschichte zu schreiben", hielten Anhänger mit selbst gebastelten Pappbuchstaben ihren Idolen entgegen. Trainer Gislason genießt seither Kultstatus in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts.
 
Es war eine der nicht seltenen Verquickungen der Geschichte, dass ausgerechnet jener Gislason jetzt in Hamburg als Kieler Coach und einer der erfolgreichsten europäischen Klubtrainer der Geschichte überhaupt, quasi seinen Ausstand gab; im Sommer hört er mit knapp 60 als Vereinscoach auf. „Du bist ei­ner der größ­ten Bun­des­li­ga­trai­ner ge­we­sen“, sag­te der SCM-Ge­schäfts­füh­rer Marc Schmedt schon in der Ver­gan­gen­heits­form, „das sieht un­se­re gan­ze Re­gi­on so.“ Nach der Pokalübergabe tollte der ansonsten so coole und disziplinierte Isländer („Ich kann jetzt nicht mehr leer ausgehen in meiner letzten Saison“) auf dem Parkettboden herum, herzte alles, was sich ihm in den Weg stellte. Selbst ARD-Reporter Delling konnte sich vor laufender Kamera einer Gislasonschen Umarmungs-Attacke nicht entziehen. „So habe ich Alfred noch nie erlebt“, staunte selbst Ex-SCM-Legende Stefan Kretzschmar.
 
So sehr die Magdeburger Fans den Isländer bis heute verehren, selbst er konnte damals den sich nach 2002 abzeichnenden Absturz ins Mittelmaß nicht aufhalten. Denn ziemlich bald erwies sich, dass dieses teure Team, dem der später abgehalfterte Manager Bernd-Uwe Hildebrandt den verwegenen Kampfnamen „Gladiators“ verpasst hatte, mit den im Osten zu erwirtschaftenden Einnahmen nicht zusammenzuhalten war. Bis heute halten sich Gerüchte, dass nur die Meisterschaft und der Gewinn der europäischen Königsklasse einen früheren finanziellen Kollaps verhinderten. Gislason wurde Anfang 2006 in Magdeburg entlassen. Zwar gelang 2007 in einem Akt des Aufbäumens noch einmal der Gewinn des EHF-Pokals, doch die Erfolgslinie wies klar nach unten. In den darauffolgenden Jahren stand der SCM tatsächlich mehrmals am Rand der Insolvenz. 2010 drückte ihn ein Negativkapital von 1,1 Millionen Euro. Es sollte bis 2016 dauern, bevor mit dem Gewinn des DHB-Pokals wieder ein Titel gewonnen wurde.
 
Seither geht es bergauf. Es wurde so etwas wie eine dritte Phase der grün-roten Langzeit-Entwicklung eingeleitet. Die finanziellen Altlasten sind längst getilgt, in der Meisterschaft ist ein Platz unter den Top Five fast schon die Regel. Im EHF-Cup und im nationalen Pokalwettbewerb qualifizierte man sich zuletzt fast jedes Jahr für die Endrunden. Doch genau in diesen Finals offenbarte der SCM seine derzeit wohl größte Schwäche: Immer wenn es wirklich darauf ankommt, reicht es eben doch nicht für den ganz großen Erfolg. Das war 2018 in beiden Final Four der Fall (wobei das Halbfinal-Aus im EHF-Cup vor eigenem Publikum in der Getec-Arena besonders wehtat), jetzt wiederholte es sich in Hamburg.
 
Ob sich dahinter ein generelles mentales Problem verbirgt, ob zu viel Selbstsicherheit oder eventuell die Angst vor der eigenen Courage im Spiel sind, lässt sich von außen nur ganz schwer beurteilen. Dazu müssten Leute, die etwas von der Sache verstehen, ganz lange und ganz tief ins Team hineinschauen und hineinhorchen. Sicher scheint nur: Will der Verein in den nächsten Jahren seine erfolgreiche Entwicklung fortsetzen und ganz oben mitmischen oder sogar wieder einmal in der Champions League angreifen (wofür die rein sportlichen Voraussetzungen ja allemal da zu sein scheinen – siehe moderner Tempohandball), sollte dieses Manko unbedingt abgestellt werden. Je eher, desto besser. Rudi Bartlitz

Der SC Magdeburg

Gegründet wurde der Verein 1955 unter dem Namen SC Aufbau Magdeburg. Ihm gehörten auch die Handballer an. Seit 1965 trägt er den Namen SCM. Der SCM ist der erste deutsche Handballverein, der 2002 die Champions League gewann. Zuvor war man 2001 deutscher Meister geworden. Mit  dem DHB-Pokal (den sie zuvor schon einmal 1996 an die Elbe holten) sicherten sich die Magdeburger 2016 in ihrer 60. Saison ihren 30. Titel im Herrenbereich. Zu den Erfolgen zählen ferner der Europameistertitel für Vereinsmeisterschaften 1981, der EC-Sieg der Landesmeister 1978 und 1981, drei Siege im EHF-Cup sowie zehn DDR-Meisterschaften. Hinzu kommen vier Pokalsiege in der DDR. Nach der Wende gehören die SCM-Handballer ohne Unterbrechungen der Bundesliga an. Der SC Magdeburg beendete die letzte Saison auf Platz 4 in der deutschen Eliteliga.

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