Kein Platz für Täve

Dem Idol des DDR-Sports wurde erneut die Aufnahme in die „Hall of Fame“ versagt. Was bedeutet dies für die
Geschichtsschreibung der deutschen Leibesübungen?

Für Gustav-Adolf (Täve) Schur wird die Tür zur „Hall of Fame“ des deutschen Sports für immer verschlossen bleiben. Es ist ein schlichter Satz mit enormer Sprengkraft. Für die einen stellt die Abfuhr, die Schur, die Legende des DDR-Sports schlechthin, jetzt erteilt wurde, einen rein politisch motivierten Schritt dar, einen Akt von Siegermentalität. Für andere wiederum ist Schur bis zum heutigen Tag ein unverbesserlicher Vasall eines menschenverachtenden Systems geblieben, für den in einer Ehrenhalle des deutschen Sports kein Platz sein dürfe.
Soweit, grob umschrieben, die Faktenlage. Dennoch, die breite öffentliche Diskussion über die Abweisung des Mannes aus Heyrothsberge (die bereits zweite nach einem ersten Anlauf 2011) und die im Osten unüberhörbare Empörung über die Jury-Entscheidung (nachzulesen auch in zahlreichen Leserbriefen an hiesige Zeitungen) wird möglicherweise nicht ohne Nachwirkungen auf die gesamte Geschichtsschreibung der Leibesübungen in diesem Land bleiben. Dies wäre auch nur konsequent.
Zu fragen ist nämlich, welchen Stellenwert die 2008 von der Stiftung Deutsche Sporthilfe  ins Leben gerufene „Hall of Fame“ besitzt. Ob sie angesichts der schmachvollen deutschen Geschichte, angesichts von Nationalsozialismus und zwei Staaten ihren eigenen hehren Ansprüchen, nämlich die herausragenden Figuren aus Stadien und Wettkampfhallen des zurückliegenden Jahrhunderts zu vereinen, überhaupt je gerecht werden konnte. In Deutschland sind Sport und Sportler oft unter dem Vorwand eines (meist falschen) Patriotismus vereinnahmt worden für andere Zwecke als glanzvollen Sieg und ehrenvolle Niederlage. Die „Hall of Fame“ will Erinnerung und Aufklärung in Gang bringen, indem sie, wie es bei der Gründungsveranstaltung hieß, die sportlichen Erfolge stets im Kontext ihrer jeweiligen Zeit darstelle und auch etwaige Verfehlungen benenne, um Diskussionen anzuregen.
Wenn dieser Zeitfaktor und dieses Benennen von „etwaigen Verfehlungen“ auch und gerade im Falle Schur zum Maßstab genommen worden wäre, die Entscheidung wäre möglicherweise anders ausgefallen. Denn dass dieser zum „Jahrhundertsportler der DDR“ gewählte Täve, zweifacher Radweltmeister und zweifacher Gewinner der  Radfernfahrt Prag-Berlin-Warschau (bekannter als „Friedensfahrt“), ein überragender Sportler war, steht außer Frage. Für viele in der DDR war er ein Held und ein Vorbild. Ob das Wort Vorbild heute, ein gutes Vierteljahrhundert nach der Wende, nach all den Veröffentlichungen über die Fehlentwicklungen im DDR-Sport noch gelten kann, muss in einer freien Gesellschaft  jeder für sich ganz persönlich beantworten. Die „Frankfurter Allgemeine“ äußerte sich dieser Tage so:  „Ihn einen Ewiggestrigen zu nennen ist keine Beleidigung. Schließlich empfindet Schur es nur als konsequent, wie er weiter zu dem steht, was er zeitlebens vertrat.“
Als historische Figur, die er zweifellos darstellt,  ist Schur – das macht die erneute Ablehnung seiner Kandidatur wie in einem Brennglas sichtbar - ein Beispiel für die Unmöglichkeit, eine Ruhmeshalle des deutschen Sports aufzubauen, deren Mitglieder den Ehrgeiz nachfolgender Generationen anregen; wie die Sporthilfe das will. Dazu ist die „Hall“ ein untaugliches Mittel. Um das zu belegen, genügt allein ein Blick auf einige Mitglieder. Von Anfang an dabei ist Rudolf Caracciola, der erfolgreichste europäische Automobilrennfahrer in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Derselbe Caracciola, der schon 1933 in das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) eintrat, eine paramilitärische Unterorganisation der NSDAP. Sein Rang: Obersturmführer. Sporthilfe-Geschäftsführer Michael lgner sprach im Täve-Fall davon, dessen  jüngsten Aussagen „passen nicht zu unserem Werte-Leitbild“. Passt ein Obersturmführer ins Werte-Leitbild?
Weiter: Da wird ein Willi Daume als „die bedeutendste Führungspersönlichkeit, die der deutsche Sport hervorgebracht hat“, gewürdigt, verbunden mit dem Hinweis, dass er im Nationalsozialismus Sport zur militärischen Ertüchtigung propagierte, sich als Unternehmer mit dem NS-Regime arrangierte und davon profitierte, dass er Zwangsarbeiter beschäftigte. Dressurreiter Josef Neckermann wird nicht nur als Gründer der Sporthilfe, sondern auch als frühes Mitglied der NSDAP porträtiert, das von der Enteignung jüdischer Unternehmer profitierte.
Andererseits: 2008 wird auch der Kommunist und Untergrundkämpfer Werner Seelenbinder aufgenommen. Den Ringer, Vierter 1936 bei Olympia in Berlin und später in der DDR, so etwas wie eine Vorzeigefigur in der sozialistischen Ahnengalerie des Sports, richteten die Nazis 1944 in Brandenburg durchs Fallbeil.
Zu anderen Ungereimtheiten der Ruhmeshalle gehört es, dass eine Katarina Witt darin Platz findet. Niemand schien es seinerzeit offenbar zu stören, dass sich „das schönste Gesicht des Sozialismus“ bei DDR-Jubelfeiern an der Seite von SED-Chef Erich Honecker sehen ließ, vom DDR-System profitierte. Wiederum anders liegt der Fall bei der zweifachen Weitsprung-Olympiasiegerin Heike Drechsler. Ausgerechnet am selben Tag, als Schur nicht das nötige Quorum von 50 Prozent erhielt, wurde die Jenaerin aufgenommen. Jahrelang hatte man ihr zu viel Staatsnähe und eine Verweigerungshaltung bei Dopingfragen vorgeworfen.
Während Drechsler zu den herausragenden deutschen Leichtathletinnen der letzten Jahrzehnte gehört und sportlich auf jeden Fall in eine solche „Hall“ passt, sieht die Sache bei Henner Misersky erneut ganz anders aus. Sportlich ist da nichts, was den einstigen Thüringer Hindernisläufer und späteren Lauftrainer für die Ehrenhalle qualifizieren würde. Bei Misersky wurde jedoch seine Weigerung honoriert, sich nicht mit dem DDR-Doping-System zu arrangieren. Wie auch immer man es bewerten mag: eine durch und durch politisch-moralisch motivierte Berufung. Schurs Nominierung hatte Misersky übrigens einen „Schlag ins Gesicht der vom Leistungssport in der DDR aus politischen Gründen Ausgegrenzten, der Dopinggegner und Opfer“ genannt.
Natürlich, die kompromisslose, man könnte auch sagen: starre, Haltung Schurs zum DDR-Sport, gerade was das Doping betrifft, muss man nicht teilen. So wie es auch der Präsident des Landessportbundes (LSB) Sachsen-Anhalt, Andreas Silbersack, nicht tut. Dennoch hatte er sich, ebenso wie die Dachorganisation DOSB und der Sportjournalisten-Verband  vehement für eine Aufnahme Schurs, Ehrenpräsident des LSB,  ausgesprochen. Weil er darin, wie Silbersack der „Volksstimme“ sagte, einen „Brückenschlag“ sieht, ein „Zeichen, dass die „Hall of Fame“ wirklich eine gesamtdeutsche ist“.
Da wären wir allerdings schon bei einem nächsten Thema, dass aus Sicht der Sporthistorie einer Aufarbeitung, besser:  Korrektur, bedarf.  Dass die Athleten mit dem Hammer-und-Zirkel-Emblem ihren bundesdeutschen Rivalen in den Medaillenstatistiken großer Meisterschaften meist eine Länge voraus waren, ist ebenso belegbar wie unumstritten. Frappierend hingegen: Von  den gegenwärtig 108 Mitgliedern der Ruhmeshalle kommt allerdings nicht einmal jeder Sechste aus der DDR. Und die „Hall of Fame“ wurde nicht in den Hochzeiten des Kalten Krieges gegründet, sondern knapp 20 Jahre nach dem Mauerfall. Rudi Bartlitz

„Ich glaube, ich bin schon fest verankert“

Herr Schur, welcher Gedanken verbindet Sie derzeit mit der „Hall of Fame“ des deutschen Sports?
Täve Schur: Es ist natürlich eine Ehre, unter den Sportlern zu sein, die für eine Kandidatur vorgeschlagen werden. Ich rede von den Sportlern, die es verdient haben, dort zu sein.

Nun hat die Jury Sie bereits zum zweiten Mal abgelehnt, obwohl der Deutsche Olympische Sportbund und der Verband Deutscher Sportjournalisten sie als Kandidaten benannt haben, sie also als würdig befanden.
Ich finde, wenn diese Gremien dafür sind, spricht das doch für sich. Natürlich gefällt mir das. Über die Ablehnung will ich gar nicht so viele Worte machen. Ich bin Jahrgang 1931, wer nach so vielen Jahren nicht weiß, was Schur tut, was er geleistet hat und wie er sich engagiert, der hat nichts begriffen. Ich habe mich immer und überall anständig betragen, ich habe nicht gedopt und habe das auch erläutert. Die „Hall of Fame“ ist sicherlich eine gute Sache - als Gedächtnis des Sports. Aber ich glaube, in dem bin ich sowieso schon fest verankert.

Man hat von Ihnen im Vorfeld der Entscheidung mehr oder weniger gefordert, den DDR-Sport als kriminell zu bezeichnen.
Darauf warten sie doch. Genau das werde ich nicht tun. Ich bin nicht dafür da, mich in den  A.… treten zu lassen. Ich gehöre einer Generation an, die den Krieg durchgemacht hat. Für uns war der Sport später auch ein Mittel, die Freundschaft der Völker zu festigen, nie mehr einen Krieg zuzulassen. Ja, wir brauchten als Staat damals Siege im Sport, aber dahinter stand eigentlich auch eine ungeheure Motivation. Wir haben gezeigt: Es gibt eine Ehre im Sport. Es ging um Ruhm und Ehre damals und eben nicht ums Geld. Der Sport in der DDR war gut, weil er beispielhaft den Aufbau der Gesundheit vorantrieb und dabei auch noch international erfolgreich war.

Sie waren in der DDR ein Idol. Dennoch: Haben Sie im Nachhinein nicht das Gefühl, für Propaganda ausgenutzt geworden zu sein?
Personen an der Spitze von Staaten und Parteien, die sich an sportlichen Erfolgen berauschen, gab und gibt es immer, in Ost und West. Insofern: Natürlich wurden unsere Erfolge ausgenutzt. Aber, Propaganda, ja, wer macht das nicht? Das machen doch heute alle, auf der ganzen Welt: Nehmen Sie nur Radprofi Lance Armstrong, der war sogar bei US-Präsident George W. Bush zu Gast, der wurde da empfangen. Mit dem Sport lässt sich immer renommieren. Fragen: Rudi Bartlitz

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