Von Träumen und Titeln

Wie ihn die Fans lieben und die Konkurrenten fürchten: Matthias Musche hat das gegnerische Tor fest im Blick. Foto: Holger Sieglitz

Die SCM-Handballer katapultierten sich mit einem sensationellen Start an die Spitze der Bundesliga-Tabelle. Selbst die Meisterschaft scheint nun nicht mehr ausgeschlossen.

Es fällt schwer, historischen Vergleichen aus dem Weg zu gehen. 2001 fegte ein Star-Ensemble des SC Magdeburg durch die Bundesliga und krönte seinen Parforceritt mit der ersten deutschen Meisterschaft nach der Wende. Dafür stehen Namen wie Ole Stefansson, Stefan Kretzschmar, Gueric Kervadec, Oleg Kuleschow, Joel Abati, Henning Fritz und andere. Ein außergewöhnliches Team mit Weltklassespielern und Talenten auf jeder Position. Mit der Meisterschaft und dem anschließenden Champions-League-Sieg 2002 befanden sich die Schützlinge von Alfred Gislason auf dem absoluten Zenit ihres Könnens. Eine Mannschaft, und das ist des Bemerkens durchaus wert, die nicht wie Phönix aus der Asche gestiegen, sondern Jahr für Jahr gewachsen war.

17 Jahre später fühlen sich kühne Optimisten in der Elbestadt an diese Zeit zurückerinnert. Der SCM des Jahres 2018 wandelt als Spitzenreiter der Liga nicht nur auf den Spuren der großen Vorgänger. In einem hat er die sogar schon übertroffen: Die Jungs von Trainer Bennet Wiegert legten mit sieben Siegen in Folge einen Start hin, der neuen Vereinsrekord bedeutet. Die bisherige Bestmarke  stammte aus der Spielzeit 2003/04, als  sechs Partien gewonnen worden, bevor es eine Niederlage in Eisenach setzte. Selbst in der Meis-terschaftssaison 2000/01 holte man unter Gislason in den ersten sechs Begegnungen „nur“ 11:1 Punkte.

Magdeburg, das wie keine andere Stadt im Osten als Tempel des schnellen Hallensports gilt, befindet sich in diesen Tagen in einer wahren Euphorie. Lange – einige sagen: zu lange – hat man in der erfolgsverwöhnten Stadt auf derartige Momente warten müssen. Die Einwürfe von Skeptikern, wonach die ersten Pflaumen oft madig seien, werden souverän weggelacht. Und es sind ja durchaus nicht nur die Freaks in Grün-Rot, die sich vom neuen SCM begeistert zeigen. Deutschlands-Handball-Ikone Heiner Brand schwärmt vor allem vom grandiosen Tempospiel der Elbestädter. „Außerdem sind sie sehr ausgeglichen besetzt und eingespielt“, kommentierte der Ex-Bundestrainer, als er das Team in der vergangenen Woche in der Getec-Arena selbst in Augenschein nahm. „Dieses Eingespieltsein führt zu einer großen Stabilität. Dies wiederum ist Voraussetzung, wenn man ganz oben ankommen will. Selbst wenn der Weg bis zum Titel noch weit ist, man muss die Magdeburger einfach zu den Meisteranwärtern zählen.“

In dieselbe Kerbe schlägt SCM-Legende Stefan Kretzschmar: „Sie spielen einen Tempohandball, den derzeit keine andere Mannschaft der Bundesliga zeigt. Die Mannschaft hat eine Philosophie – und sie glaubt an sie.“ Der frühere Magdeburger Welt-Handballer Hennig Fritz sieht es so: „Der SCM hat sich die letzten Jahre personell sehr gut verstärkt. Es ist eine gesunde Mischung zwischen erfahrenen und jungen Spielern. Ganz klar, man ist eine stabile Spitzenmannschaft geworden. Da wachsen in einer Handballstadt wie Magdeburg schnell die Erwartungen und Träume. Man tut aber gut daran im Club, weiter Schritt für Schritt zu denken. Ich glaube, die Liga ist so ausgeglichen, da hat Magdeburg eine gute Chance, in dieser Saison sehr weit zu kommen. Bedingung immer, dass man besonders bei den Leistungsträgern verletzungsfrei bleibt.“ Für Ex-Trainer Frank Carstens, der mit seinem derzeitigen Klub GWD Minden vergangene Woche in Magdeburg 40 Gegentore kassierte, ist „der SCM momentan der ICE in der Bundesliga, den es zu bremsen gilt“.

Apropos Bremsen. In der Klubführung sieht man den neuen Hype um den Verein einerseits natürlich „mit viel Freude“, wie Geschäftsführer Marc Schmedt im Gespräch mit MAGDEBURG KOMPAKT sagte. „Jetzt kommt es vor allem darauf an, die Entwicklung konsequent weiterzuführen. Die augenblickliche Situation erlaubt es uns zudem, uns noch besser in der Liga positionieren zu können.“ Das heißt? „Wenn du Erfolg hast, ist es natürlich einfacher, jetzt bereits die Mannschaft für die nächsten Jahre formen zu können. Denn eine erfolgreiche Entwicklung, das sieht man nicht zuletzt am augenblicklichen Team, baut sich über Jahre auf.“ So ist heute bereits der Kader für die Saison 2019/20 ziemlich fest umrissen. Mit Robert Weber, Dario Quenstedt und Mads Christiansen verlassen zu Saisonende drei Stammkräfte die Elbestadt, mit Ex-SCM-Spieler Christian Steinert (aus Erlangen), Nationalspieler Moritz Preuss (aus Gummersbach) und dem schwedischen Torhüter-Talent Tobias Thulin rücken Erfolg versprechende Akteure nach. Auch auf der Rechtsaußenposition herrscht seit dem Wochenende Klarheit: Für Weber kehrt der Ex-Magdeburger Tim Hornke (28) an die Elbe zurück. Der 17-malige Nationalspieler, der bis 2014 für die Grün-Roten auflief, unterschrieb einen Kontrakt bis 2024. „Der SCM bietet mir die Möglichkeit, international zu spielen.“ Zum anderen sei Magdeburg für ihn und seine Frau der „langfristige Lebensmittelpunkt. Unser Haus ist gerade fertig geworden und außerdem erwarten wir Nachwuchs. Dann ist es schön, wenn die Familie und die Großeltern in der Nähe wohnen."

Zugleich warnt der Geschäftsführer allerdings vor allzu viel Euphorie: „Gegenwärtig ist das eine Momentaufnahme. Wir sind gut aus den Startlöchern gekommen, es läuft richtig gut. An unserem Ziel, schnellen und attraktiven Handball zu bieten, werden wir auf jeden Fall festhalten.  Aber auch wir werden im Verlauf der Saison zweifellos Rückschläge erleben. Hinzu kommt, dass die Spitzenteams uns noch strukturell voraus sind.“ Soll im Klartext heißen: vor allem wirtschaftlich. Vor Saisonbeginn hatte Schmedt darauf verwiesen, dass er den SCM beim Etat der Bundesligisten zwischen den Plätzen vier und sechs einordne. Zu den führenden Klubs fehlten „noch ein bis zwei Millionen Euro“. Die Lücke war in der Vergangenheit auf jeden Fall schon einmal größer …

Dennoch, Cheftrainer Bennet Wiegert möchte, so lange es geht, auf der augenblicklichen Welle des Erfolgs schwimmen. „Es ist ja kein Geheimnis, dass im Leistungssport mit Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen viele Sachen einfacher von der Hand gehen“, erklärt er. „Im Sport spricht man auch gerne vom `Flow`, den man erreichen möchte. Den wollen wir so lange wie möglich aufrechterhalten. Es wäre daher schwachsinnig und unrealistisch gewesen, wenn ich vor der Saison gesagt hätte, wir starten mit 14:0 Punkten. Wir haben uns aber schon viel damit beschäftigt, dass wir in den letzten beiden Spielzeiten immer in der Rückrunde explodiert sind und uns darüber unterhalten, was gewesen wäre, wenn wir schon in der   ersten Serie so gespielt hätten.“ Und so scheut sich Wiegert auch nicht, das Wort Meisterschaft in den Mund zu nehmen. „Ich mag es, zumindest darüber zu sprechen. Insofern bin ich gern Favorit.“

Zumal er über ein Team verfügt, das in den knapp drei Jahren seiner Amtszeit kontinuierlich gewachsen ist, durch wenig Spielerwechsel in dieser Saison mit einstudierten Abläufen und Automatismen aufwarten kann. Wiegert: „Das ist durchaus ein Plus.“ Ein weiteres Plus: Das überragende Duo Marko Bezjak („Es gibt derzeit auf der Welt kaum einen besseren Passgeber als ihn“, so Minden-Trainer Carstens) und Christian O’Sullivan, das für das verblüffende SCM-Tempospiel verantwortlich zeichnet, Torschützen-König Matthias Musche (siehe Extratext) sowie Keeper Jannick Green, der die Statistiken der besten Bundesliga-Torhüter anführt. „Die kommen fast ohne Rückraum-Tore aus“, staunte Brand.

Dabei hat der Coach seine Rüstkammer noch gar nicht richtig geöffnet. „Wir haben durchaus noch einige Joker in der Hinterhand“, sagte er nach dem Minden-Spiel unter Hinweis auf Dänen-Shooter Michael Damgaard und Rechtsaußen Robert Weber. Brand ging sogar noch einen Schritt weiter: „Wiegert hat ja“, analysierte er anerkennend, „noch eine komplette gute Mannschaft auf der Bank sitzen.“ Genau das ist der Stoff, aus dem – es lebe der Konjunktiv! – im Frühsommer 2019 vielleicht sogar Meisterträume wahr werden könnten … Rudi Bartlitz

Pfeilschnell und torgefährlich: Matthias Musche trumpft auf

Er ist eines der prägenden Gesichter des neuen SCM: Matthias Musche. Der Linksaußen legte einen Saisonstart hin, der nicht nur Experten ins Staunen versetzte – und schwärmen ließ. Mit 65 Toren führt der 26-Jährige Ur-Magdeburger die Torschützenliste der Bundesliga nach sieben Spieltagen souverän an. Der Blondschopf mit dem Rauschebart ist damit einer der Garanten des Raketenstarts der Grün-Roten. Sein bisheriges Meisterstück lieferte er gegen den Bergischen HC ab, als er in den 60 Minuten sage und schreibe 16 Treffer erzielte. Musche ist damit einer der wenigen Akteure, die es in der über ein halbes Jahrhundert alten Geschichte der Bundesliga fertigbrachten, mehr als 15 Treffer in einer Partie zu werfen. Den Rekord hält Ex-HSV-Akteur Stefan Schröder (wie Musche übrigens ein Außenspieler), der es im Juni 2009 gegen den Stralsunder HV auf 21 Tore brachte und den 26 Jahre alten Rekord des Polen Jerzy Klempel (Göppingen/19 Tore) auslöschte.

Geschäftsführer Marc Schmedt nennt drei Gründe, die Musches Rolle im SCM charakterisieren. „Er ist nicht nur der derzeit beste deutsche Linksaußen in der Bundesliga. Er ist zudem Magdeburger und unser emotionaler Leader auf der Platte.“ In der Tat: Keiner pusht seine Mannschaftskameraden und das Publikum so wie der Außenmann. Zum spektakulären Start seines Klubs und den sich nunmehr bietenden glänzenden Aussichten meint der Spezialist für schnelle Gegentore: „Sollten sich die anderen mehr Schwächephasen erlauben als gedacht, dann sind wir natürlich gern da.“ Er glaubt sogar, der SCM könne 18 Jahre nach dem großen Coup von Kretzschmar und Co. wieder den Sprung nach ganz oben schaffen. „Aber das können vier weitere Teams auch. Und die sind alle verdammt stark."

„Ich will immer gewinnen“, bekennt der pfeilschnelle Torjäger. Das war schon so, als der Spross einer Handballer-Familie („Schon mein Vater und mein Opa jagten dem kleinen Ball nach“) mit sechs Jahren beim Fermersleber SV begann. Zwei Jahre später wechselte er zum SCM, durchlief sämtliche Jugendabteilungen und rückte 2011 in den Bundesligakader auf. Zwischendurch spielte er für die SCM Youngsters, den Drittligisten HG 85 Köthen und besaß 2012/13 ein Zweitspielrecht für Post Schwerin. In der Nationalmannschaft  wurde er bisher 26 Mal berufen (41 Tore). Nach einer längeren Pause wurde Musche von Bundestrainer Christian Prokop im Sommer wieder für die Japanreise der Nationalmannschaft nominiert.

Auf dem Feld kennt der 1,86-Meter-Mann  weder Verwandte noch Schmerz. Mit Ur-Gewalt gibt es für den Sportstudenten der Uni Magdeburg nur ein Ziel: das gegnerische Gehäuse. Seine Abschlüsse sind knallhart, ebenso humor- wie schnörkellos. Auf die bei Außen ansonsten so beliebten Dreher, Heber und anderen Kunstwürfe verzichtet er in der Regel. Im Sinne der Sache, sprich: dem sicheren Torerfolg. Genau so hält er es vom Siebenmeterpunkt, wo er den etatmäßigen Schützen Robert Weber inzwischen ablöste. „Unser Tempospiel kommt mir als Außen natürlich sehr gelegen", sagt Musche, der seinen Vertrag erst kürzlich um astronomisch anmutende sechs Jahre (!) bis 2024 verlängerte und damit ein deutliches Zeichen für den Handball-Standort Magdeburg setzte. (rb)

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