Biobetrug per Verordnung

Ist das nicht verrückt? Seit Jahren fordern Parteien eines bestimmten Spektrums Verbraucheraufklärung in Sachen Gentechnik. Aber auf diesem Feld unterstützen sie eine gewerbsmäßige Verbrauchertäuschung. Ganz zutreffend verkünden sie, die große Mehrheit der Bevölkerung wolle keine Gentechnik.

In dem im doppelten Sinne mächtigen Chor der Gentechnik-Gegner spielen neben Parteien die Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) wie Greenpeace, BUND, NABU, Foodwatch, das Gen-ethische Netzwerk, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) usw. eine große Rolle bei der Beeinflussung des Verbraucherwillens, oder besser, bei der Erziehung der Bevölkerung zu in ihrem Sinne kritischen Konsumenten. „Eine überwiegende Mehrheit der Verbraucher*innen in Deutschland lehnt Gentechnik auf dem Teller vehement ab“, stellt der Bundesverband Naturkost Naturwaren e.V. (BNN) erneut fest und fordert „volle Wahlfreiheit für Verbraucher*innen.“ Und weiter: „Die neuen molekularbiologischen Verfahren sind vollständig als Gentechnik einzustufen. Deshalb müssen sie entsprechend gekennzeichnet und der gesetzlich vorgeschriebenen Risikoanalyse unterzogen werden.“

Anlass der jüngsten Verlautbarung, die auch von allen anderen genannten Organisationen vertreten wird, war das vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft am 7. Juni ausgerichtete Forum zu den als „Genome Editing (GE)“ bezeichneten neuen gentechnischen Methoden. „Damit alle auch in Zukunft noch frei wählen können, was sie essen, muss klar erkennbar sein, ob Produkte mit Hilfe von Gentechnik entwickelt wurden. Dies gilt selbstverständlich auch für die neuen gentechnischen Züchtungsmethoden“, erläuterte die Geschäftsführerin des BNN. Die rechtliche Situation war bisher wie folgt: Nahrungsmittel aus gentechnisch veränderten Organismen (GVO) müssen, sofern sie überhaupt in Deutschland zugelassen sind, als solche gekennzeichnet werden. Das würde eigentlich zur Kundeninformation ausreichen. Trotzdem präsentieren die Lebensmittelketten in ihrem Kampf um die Kundschaft immer mehr Lebensmittel mit dem Label „Ohne Gentechnik“. So wurden im Jahr 2018 derart gekennzeichnete Lebensmittel im Wert von nahezu 10 Milliarden Euro umgesetzt.  Das mag als Marketingstrategie angehen, Voraussetzung ist aber, dass es auch zutrifft. Davon konnte man nach bisheriger Rechtslage ausgehen.

Atomares Gärtnern ist Gentechnik

Aber plötzlich, d. h. seit dem 25. Juli 2018 ist alles anders. An diesem Tage hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwei folgenschwere Entscheidungen getroffen. Das höchste Gericht war angerufen worden, zu entscheiden, ob Organismen, die durch Anwendung der neuen Methoden des Genom-Editierens als GVOs einzustufen sind und nach dem Gentechnikgesetz zu regulieren sind, oder, da sie nach Auskunft der Wissenschaft nicht von natürlichen Produkten zu unterscheiden sind, nicht nach dessen strengen Regeln behandelt werden müssen. Der EuGH hat sich für die erstgenannte Möglichkeit entschieden und hat somit den Forderungen vor allem linker Parteien und NGOs in vollem Umfang entsprochen. Insofern sind eigentlich die aufgeregten Wortmeldungen aus dieser Richtung überflüssig, denn die Rechtslage entspricht in dieser Hinsicht deren Wünschen. Das Urteil enthält außerdem eine handfeste Überraschung. In der Mitte des letzten Jahrhunderts wurde entdeckt, dass man das Erbgut aller Lebewesen durch Bestrahlung verändern kann. Radioaktivität, Röntgen- und Korpuskularstrahlen sind dazu geeignet. Mutationen heißen diese Veränderungen, die durch Bestrahlung entstehen. Etwas später fand man Chemikalien, die vergleichbare Effekte auslösen können. „Radiomimetika“ nennt man diese Strahlen-Nachahmer. Solange es Lebewesen gibt, treten Mutationen auch natürlicherweise auf, etwa durch fehlerhafte Reproduktionsprozesse in der DNA oder weil mutagene Strahlen und Chemikalien Bestandteile unserer natürlichen Umwelt sind. In der Pflanzenzucht setzt man seit Beginn der 1970er Jahre Mutagene ein, um Erbanlagen von Nutzpflanzen zu verändern. Vorwiegend entstehen in der Folge Kretin-Pflanzen, also solche, die absterben oder nicht zu gebrauchen sind. Aber manchmal (selten!) werden nützliche Eigenschaften verstärkt: Wachstumsregulatoren werden ausgeschaltet und die Erträge nehmen zu, die Produktion von Inhaltsstoffen wie Zu-cker, Aromen, Öle und Eiweiß etc. wird erhöht, Pfirsiche verlieren ihre Haare und werden zu Nektarinen, Getreidearten bilden kürzere Halme und verbessern ihre Standfestigkeit und unangenehme Geschmackskomponenten, wie Bitterstoffe, werden nicht mehr oder in geringerem Ausmaß produziert. Nachfolgende Kreuzungen der neuen Mutationsprodukte mit vorhandenen Sorten führten dann zu den begehrten Hochleistungspflanzen, deren Produkte uns im Handel angeboten werden.

Von der Bevölkerung nicht wahrgenommen wird, dass die strahlen- und chemikalieninduzierte Mutagenese eine Unzahl von ungewollten und unkontrollierbaren Erbgutveränderungen auslöst. Bis zu 50.000 Mutationen sind es pro Genom. Kein Mensch weiß, was sie alles bewirken und es fehlen Methoden und Forschungskapazitäten, um dies zu untersuchen. So kann man mit Fug und Recht sagen, dass die herkömmliche Pflanzenzüchtung eine Risikotechnologie ist. Hier sollen dazu keine Ängste geschürt werden. Bisher sind nur zwei Fälle dokumentiert, in denen Menschen durch solche Pflanzen zu Schaden gekommen sind: Eine Kartoffel mit einer gefährlich hohen Solaninkonzentration (Solanin ist giftig) und Sellerie, der extrem allergen war. Hingegen gab es noch nie Probleme mit Pflanzen, die aus der Gentechnik, die in den 70er Jahren entwickelt wurde, stammen. Allerdings gibt es immer wieder angstmachende Publikationen, wie die von dem französischen Prof. Gilles-Éric Séralini, den die Fachwelt als Wissenschaftsscharlatan einstuft. Er und seine unseriöse Arbeitsgruppe publizieren des Öfteren Behauptungen, wonach Versuchstiere nach Fütterung mit genetisch veränderten Pflanzen verstärkt an Krebs erkrankt seien sollen. Diese Schreckensberichte werden ebenso regelmäßig in der Presse aufgewärmt, wie die Augenzeugenberichte über das Ungeheuer von Loch Ness. Während sich die Nichtexistenz des schottischen Monsters aus methodischen Gründen prinzipiell nicht beweisen lässt, wurden aber Seralinis Thesen und andere Falschmeldungen über die Gefährlichkeit der Gentechnik wissenschaftlich klar widerlegt.

Sie wissen, als Gentechnik bezeichnete man bisher Methoden, mit denen man Gene artübergreifend, also z. B. von Bakterien oder Tieren auf Pflanzen, überträgt oder mit der man von Menschen synthetisierte DNA-Konstrukte in das Genom von Organismen einfügte. Solche Pflanzen haben ein hohes Potenzial, sich vor Schädlingen zu schützen, dem Klimawandel zu trotzen, den Einsatz von Agrochemikalien zu reduzieren und die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Aber sie sind in der EU und in vielen außereuropäischen Ländern streng reguliert. Die Erfüllung gesetzlicher Auflagen zur Entwicklung und Freisetzung solcher Pflanzen wird so teuer, dass moderne Pflanzenzucht durch Anwendung der Gentechnik nur noch große Konzerne wie Bayer, Syngenta, DuPont, BASF usw. leisten können, und sie tun das in ihren Filialen außerhalb der EU. Techniken des Genomeditierens bieten die Chance, kleine und sehr gezielte Veränderungen in die DNA einzuführen. Alles ist hier übersichtlich, gut kontrollierbar und die Produkte sind von denen auf natürlichem Wege entstandenen Pflanzen nicht zu unterscheiden. Die Deregulierung solcher Verfahren würde auch kleinen Unternehmen und Universitätsinstituten die Chance geben, die Monopolisierung der Saatzucht aufzubrechen und regionale Bedürfnisse an neuen Sorten zu bedienen.

„… in Gottes Hand“

Der EuGH war nun aufgerufen, diese innovative und für die Zukunft der Welternährung eigentlich unverzichtbare Technologie von der strengen Reglementierung zu befreien. Das tat er aber nicht, sondern er brandmarkte das GE als eine nach dem Gentechnik-Gesetz zu behandelnde Methode. Damit fällte der EuGH für die Pflanzenzucht in Deutschland das Todesurteil. Und es gibt eine weitere Überraschung:  Das oberste Gericht stufte alle Methoden der artifiziellen Mutationsauslösung als Gentechnik ein, auch die traditionelle Mutationsauslösung durch Anwendung mutagener Noxen. Das ist logisch, denn spontane Mutationen, hervorgerufen durch endogene Prozesse und Umwelteinflüsse sind zwar natürlich, sie treten aber ohne menschliches Zutun pro Generation nur im niedrigen, zweistelligen Bereich auf. Wenn mittels Strahlen und Chemikalien gezielt 30.000 bis 50.000 Mutationen pro Generation erzeugt werden (was in der Natur niemals vorkommen würde), dann ist das Gentechnik und die Produkte sind GVO. Erfreulich ist, dass das, was von der Wissenschaft schon lange so gesehen wird, vom EuGH jetzt in geltendes Recht gegossen wurde. Das hat Konsequenzen, welche jene Gegner-Avantgarde mit ihren NGOs nicht wahr haben wollen und ignorieren.

Der Traum von Gentechnikfreiheit

Verfolgt man die neuesten Nachrichten, könnte man sich in einer anderen Welt wähnen. Ich las gerade: Mecklenburg-Vorpommern soll Mitglied im „Europäischen Netzwerk gentechnikfreier Regionen“ werden, fordern dortige Gentechnikgegner. Elf Bundesländer seien bereits dabei, sagte der „Agrarexperte“ der Umweltschutzorganisation BUND, bei einer Tagung der (angeblich) 13 gentechnikfreien Regionen in Mecklenburg-Vorpommern. Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf das EuGH-Urteil. Aber er hat nur die Entscheidung zu geneditierten Pflanzen im Auge, nicht die Kulturen, die seit vielen Jahren auf unseren Feldern stehen und die zu etwa 90 Prozent aus der Mutationszüchtung stammen und somit laut Urteil GVOs sind. Schlafen diese Leute oder wollen sie uns vorsätzlich täuschen?

Es gibt in Europa „Gentechnikfreie Regionen“ nur dort, wo kein Acker- und Gartenbau betrieben wird. Also da, wo Sauerampfer, Walderdbeeren, wilde Himbeeren und Pfifferlinge gedeihen und Kühe und Schafe auf Weiden grasen. Gentechnikfreie Bundesländer kann es nicht geben, weil überall dort, wo Garten- und Ackerbau ist, nach dem EuGH-Urteil gentechnisch veränderte Pflanzen wachsen. Pflanzen, die mittels klassischer Mutagenese gezüchtet wurden, sind GVOs, also Produkte der Gentechnik. Das ist geltendes Recht!  Zwar müssen die Nahrungsmittel, deren Grundlage Pflanzen aus der klassischen Mutationszüchtung sind, nicht als gentechnisch verändert deklariert werden, aber sie mit dem Label „Ohne Gentechnik“ zu versehen, ist erkennbar Verbrauchertäuschung. Die Lebensmittel, die gegenwärtig mit dem Label „Ohne Gentechnik“ gezeichnet werden (Milch- und Milchprodukte, Fleisch-und Wurstwaren  und Eier), stammen überwiegend von Tieren, die u.a. mit Getreide, Mais und Soja ernährt worden sind. All die Pflanzen stammen aus der Mutationszüchtung. Überhaupt sind alle Getreidearten und fast alle Gemüsearten, die auf unseren Feldern stehen, durch Mutationszüchtung entstanden und sind Träger veränderter Gene. Es gibt somit keine Backwaren, kein Nudel- und Pasta-Produkte, kein Bier und nur wenig Obst- und Gemüsearten, die nicht durch Mutationszüchtung entstanden wären.

„Geraten nach führenden  Repräsentanten  der Automobilindustrie jetzt Repräsentanten der großen Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels wegen massiver Verbrauchertäuschung ins Visier der Strafjustiz?“, fragt das „Forum Grüne Vernunft e.V. (FGV)“ bei einer Pressekonferenz anlässlich der Veröffentlichung eines Rechtsgutachtens des Ordinarius für öffentliches Recht und Sozialrecht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Prof. Dr. Reimund Schmidt-De Caluwe. Auf eine kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion hat die Bundesregierung lediglich darauf verwiesen, dass die Bundesdesländer im Falle einer Verbrauchertäuschung zuständig seien. Dass das Siegel „Ohne Gentechnik“ eine Verbrauchertäuschung darstellt, bestreitet die Lebensmittelwirtschaft nicht. Sie verteidigt den inflationsartig angewachsenen Einsatz des Siegels mit der Behauptung, der Gesetzgeber habe diese Irreführung der Verbraucher doch erlaubt. Nach Fachleuten des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) hat jetzt auch Prof. Dr. Reimund Schmidt-De Caluwe die (angebliche) Zulässigkeit der Verbrauchertäuschung bei Lebensmitteln, in denen Gentechnik steckt, geprüft. Sein Ergebnis ist – wie das der BVL-Fachleute – eindeutig: Diese Irreführung ist nach dem Grundsatzurteil des EuGH nicht mehr erlaubt. Lebensmittel mit aus klassischen Mutageneseverfahren gewonnenen Bestandteilen dürfen zukünftig nicht mehr mit dem Siegel „Ohne Gentechnik“ in den Verkehr gebracht werden!

Betroffen ist davon die gesamte Branche der Biolebensmittel: Mit dem Biosiegel der EU und den in Deutschland zugelassenen Siegeln gekennzeichnete Lebensmittel dürfen nicht durch und mit gentechnisch veränderte/n Organismen erzeugt worden sein. So steht es in der Siegelvergabe-Richtlinie. Aber etwa 80 Prozent der Bio-Lebensmittel erfüllen dieses Kriterium nicht. Die Biobranche arbeitet betrügerisch, solange sie den Richterspruch des EuGHs nicht berücksichtigt und ihre Richtlinie nicht der Rechtslage anpasst. Es mag sein, dass dem einen oder anderen angesichts der Tatsachen der Appetit vergangen ist. Aber das wäre ungerechtfertigt. Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren Lebensmittel so sicher und gesund wie heute, ganz gleich ob sie mit Biosiegel oder „ohne Gentechnik“ gezeichnet sind oder nicht. Nur sollte man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen und beim Einkauf informiert sein. Reinhard Szibor


Prof. Dr. rer. nat. habil. Reinhard Szibor – 1961: Gärtnerlehre; Abitur im 2. Bildungsweg; 1965: Biologiestudium in Jena; 1970: Humangenetiker an der Medizinischen Akademie MD; 1993: Abstammungsgenetiker in der Rechtsmedizin der OvGU; 2010: Ruhestand; publizistisch tätig im Forum Grüne Vernunft.

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