Verkümmerter Patriotismus

In Sachsen spazieren seit über zwei Jahren Menschen durch die Innenstadt und bezeichnen sich als Patrioten. Solche, die den Untergang des christlichen Abendlandes fürchten. In ganz Deutschland schauen viele mit Irritation auf die patriotische Selbstbezeichnung und wollen darin gar Nationalismus und Chauvinismus erkennen. Warum wir uns mit dem Begriff Patriotismus schwer tun, ist eine lange Geschichte. Die deutschen historischen Geschicke haben daran ihren Anteil als auch jüngere politische Defizite im Umgang mit der Nation. Ein Deutungsversuch.

Wenn deutsche Sportler internationale Siege erringen – vor allem bei Erfolgen der Fußballnationalmannschaft – werden stolz tausendfach schwarz-rot-goldene Flaggen in Stadien oder auf Straßen und Plätzen geschwenkt. Hierbei drücken sich Identifikation und Verbundenheit mit der Nation aus. Im Erfolg scheint man gern vereint und bekennt sich symbolisch zum eigenen Land. Aber warum zeigt sich diese Emotionalität vorrangig im Siegestaumel nach sportlichen Wettkämpfen, jedoch selten in Bekundungen zu nationalen Feiertagen oder zu anderen bedeutsamen Anlässen, die tief mit der geschichtlichen Existenz Deutschlands verknüpft sind? Mangelt es uns Deutschen an einem gesunden, spontanen Ausdruck eines heimatlichen Stolzes? Zum besseren Verständnis taugt zunächst eine etymologische Begriffsbestimmung zum Patriotismus: Vaterlandsliebe oder die Verbundenheit mit der eigenen Nation unter politischen, historischen, kulturellen und ethnischen Bindungen – so kann man den Begriff verstehen. Auch Worte wie Nationalstolz oder Nationalgefühl werden damit verbunden. Ursprünglich entstammt das Wort „Patriótes“ dem Altgriechischen und bezeichnete zunächst ausschließlich Nichtgriechen. Die gemeinsame Abstammung, abgeleitet von „patér“ (Vater), war damit gemeint. Über das Französische hielt das Wort offensichtlich erst im 16. Jahrhundert Einzug in den deutschen Sprachraum. Dass Patriotismus mit der Staatszugehörigkeit und Verfassung verbunden wird, findet seine Wurzeln vor allem in der Folge der französischen Revolution, als sich erstmals ein Verständnis von Volksherrschaft über allgemeine Wahlen herausbildete.

Während die Franzosen sich bereits am Ausgang des 18. Jahrhunderts und später auch andere europäische Völker als Nationalstaat begriffen, gelang der Zusammenschluss zum Deutschen Reich erst mit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 als sich die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt dem Nordbund unter Führung Preußens anschlossen. Natürlich dürfen die historischen Einflüsse durch die einstige Existenz des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nicht vernachlässigt werden. Für das Verständnis zum Nationalstaat mit gemeinsamer Verfassung kann das „Alte Reich“, ein von den römisch-deutschen Kaisern geführtes vorund übernationales Gebilde, das Mitte des 18. Jahrhunderts von den Interessengegensätzen der beiden Großmächte Österreich und Preußen geprägt war, nicht herhalten. Die Frage der berühmten deutschen Dichter Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller vor über 200 Jahren „Deutschland – aber wo liegt es?“ macht deutlich, wie fragil ein hiesiges Nationalbewusstsein damals gewesen sein musste.

Mit Ausklang des 19. Jahrhunderts erlebte insbesondere Deutschland einen gewaltigen Aufschwung durch die Industrialisierung. Die noch junge, geeinte Nation wurde schon 1914 in einen neuen großen Krieg gerissen. Der Ausgang ist bekannt. Fast 800.000 deutsche Soldaten zogen mit Begeisterung gegen Frankreich. Die Niederlage und die Bedingungen des Versailler Vertrags bezeichnet die Geschichtsschreibung als bisher größte Demütigung des Deutschen Volkes seit seiner Existenz. Den offenbar sprunghaft entstandenen Nationalstolz, der sicher auch von der wirtschaftlichen Blüte um 1900 getragen wurde, nutzten kaiserliche Militaristen für einen Kriegsfanatismus aus. Es mag daher wenig verwunderlich erscheinen, dass die erlittene Schmach später in einen überhöhten Patriotismus und schließlich Nationalismus unter den Nationalsozialisten mündete.

Deren Größenwahn und Rassismus drückte die Nation mit dem Ende des 2. Weltkrieges noch tiefer zu Boden als es nach dem 1. der Fall war. Keine 65 Jahre waren von 1871 bis 1945 unter einem geeinten Nationalstaat vergangen und zweimal musste sich alles, was sich mit nationalem Stolz verband, in Schuld und Sühne suhlen.

Die Teilung der Nation als Folge der Nazikriegsverbrechen rammte zusätzlich einen Keil in die Vorstellung einer umfassenden und vorurteilsfreien Vaterlandsliebe. Die Konfrontation in der Zeit des Kalten Krieges ließ zudem keine gelebte Verbundenheit mit einem Verständnis über ein einheitliches Nationalgefühl zu. Es muss vermutet werden, dass sich unter diesen historischen Bedingungen kaum ein angemessener Patriotismus ausbilden konnte.

Ein weiterer Umstand könnte die Gefühle der Deutschen für ihre Vaterlandsverbundenheit verkümmert haben: In der öffentlichen Rede haben Politiker der letzten Jahrzehnte aufgrund der historischen Gegebenheiten und unter dem Anspruch von Verantwortungsübernahme zur Schuld über die Kriegs- und Gräueltaten der Nazi-Herrschaft selbst patriotische Bekenntnisse verdrängt und verschwiegen. Möglicherweise ist darunter ein Klima entstanden, das Äußerungen in diese Richtungen in Irritationen führt. Es fehlt offenbar an einem unbelasteten und unvoreingenommenen Umgang mit Gefühlen zu Stolz und Liebe zur Deutschen Nation.

Wenn Zeitgenossen heute beim Nennen des Begriffs Patriotismus im Innern eine Abneigung empfinden bzw. einen Rechtfertigungsdruck erlegen sind, anderen die negative Bedeutung schmackhaft machen zu müssen, müssten sie sich eigentlich selbst befragen, woher diese Distanz rührt. Aus diesem gewachsenen Phänomen mag ebenso erklärlich sein, warum nun eine besondere Betonung patriotischen Verhaltens gerade innerhalb der Pegida-Bewegung oder in der AfD zutage tritt. Das was über viele Jahre nicht mit natürlicher Lebendigkeit bekundet wurde, bricht später mit einem Übergewicht hervor.

Im Mittelpunkt politischer Proklamation seit der Deutschen Einheit 1990 war vor allem, dass man sich den Herausforderungen der Globalisierung stellen müsste. Der politische Prozess einer europäischen Vereinigung wurde vorrangig elitär in Regierungshandeln sichtbar, nationale Befindlichkeiten hatten sich dem stets unterzuordnen. Im Konzert der europäischen Staaten hat sich Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen Kraft und als bevölkerungsreichstes Land häufig zum Dirigenten aufgeschwungen. In unserer Innensicht wird dies sicher nicht so spürbar, wie es andere Nationen vielleicht empfinden.

Wirtschaftliche Dominanz darf jedoch nicht das alleinige Fundament für Patriotismus oder nationalen Stolz sein. In unserer Zeit überwiegen oft Losungen, die individuelle Selbstverwirklichung unterstreichen. Werbebotschaften und Glücksverheißungen pochen darauf, dass jeder selbst seines Glückes Schmied sein soll. „Das gönne ich mir“ oder „Du bist es dir wert“ – das sind Sätze, die im Zentrum persönlicher Lebensgestaltung stehen. Man sollte sich einmal aufmerksam in Russland umschauen. Dort findet man überwiegend Plakate und Slogan, die Wir-Botschaften verkünden. Vielleicht herrscht in der aktuellen Verfasstheit der deutschen Nation ein Defizit eines Wir-Gefühls, aus der sich eine Sehnsucht danach erklären ließe.

Sicher existieren noch viele weitere Aspekte, die einen angemessenen deutschen Nationalstolz unterlaufen. Wer den Begriff Patriotismus jedoch von vornherein negativ besetzt und ihn mit Revanchismus und Chauvinismus gleichsetzen wollte, offenbart eher, dass ihm der eigene Mangel an ein patriotisches Verständnis nicht bewusst ist. Natürlich wurde das Wort durch fanatische Bewegungen in der Geschichte oft genug vereinnahmt und missbraucht, aber gerade deshalb sollte es an der Zeit sein, in offener gesellschaftlicher Debatte zu einem gesunden Maß zu finden. Damit sich emotionale Bekenntnisse zu Heimat, Verfassung, Kultur und Geschichte ohne beklemmende Irritation ausleben lassen und zwar für alle in dieser Nation lebenden Menschen, unabhängig davon, welche Wurzeln sie haben. Und es gäbe außerdem kaum Möglichkeiten, den Begriff politisch zu umklammern und aus ihm eine Abgrenzungsbewegung herzuleiten.

Von Thomas Wischnewski

 

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